Autorin Gila Lustiger zu den Wahlen in Frankreich

"Marine Le Pen darf man wirklich nicht unterschätzen"

Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen hält eine Rede zum Auftakt des Wahlkampfes des Front National für die Präsidentschaftswahl.
Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen vom Front National © picture alliance / dpa / Frédéric Dugit
Moderation: Burkhard Birke · 04.03.2017
Das fehlende Unrechtsbewusstsein der politischen Eliten treibe Frankreichs Wähler in die Fänge des rechtsradikalen Front National, sagt die Schriftstellerin Gila Lustiger. Selbst Juden, Muslime und schwarze Franzosen würden für die Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen stimmen. Diese verstehe es, die Leute mit einfachen und emotionalen Parolen anzusprechen.
Deutschlandradio Kultur: Frau Lustiger, herzlich willkommen. Sie sind in Frankfurt geboren, zum Studium der Germanistik nach Israel gegangen und dann in Frankreich gelandet. Seit nahezu drei Jahrzehnten leben Sie mittlerweile schon in Paris. Sie sind unseren Hörern bekannt als Schriftstellerin und ich möchte vor allem Ihre letzten beiden Werke in Erinnerung rufen. Das ist zum einen der Kriminalroman "Die Schuld der anderen" und Ihre Reflexionen über die Terroranschläge in "Erschütterung".
"Für Frankreich und auch Europa begann 2015 eine neue Zeit", heißt es im Klappentext von "Erschütterung" mit Blick auf die Terroranschläge auf die Redaktionsräume des Satiremagazins Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt. Es folgten weitere schreckliche Anschläge und auch Deutschland ist vom Terror nicht verschont geblieben. Frau Lustiger, gehen Sie immer noch im Jardin du Luxembourg unbeschwert Joggen?
Gila Lustiger: Natürlich. Ich lebe weiterhin wie zuvor, wie eigentlich alle. Das haben wir ja in Paris versucht schon gleich am nächsten Tag nach den Anschlägen, tags darauf zu tun. Ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern, aber es gab diese Hashtags même pas peur, nicht mal Angst. Und die Leute sind gerade, extra, um zu beweisen, dass das Leben weitergehen muss, in die Kaffeehäuser gegangen und haben sich mit ihren Smartphones aufgenommen und das ins Netz gestellt.
Deutschlandradio Kultur: Dennoch ist die Polizei omnipräsent – bewaffnete Militärs mit Maschinengewehren vorm Eiffelturm, in den Straßen von Paris. Wie hat denn der Terror Sie und das Land, in dem Sie momentan leben, die Stadt Paris verändert?
Gila Lustiger: Also, visuell hat es Paris verändert, weil, wie Sie schon eben gerade gesagt haben, Militär durch die Straßen zieht. Ich war bei Freunden, die an dem Eiffelturm leben, und ich schickte einer Freundin von mir in Berlin das Wahrzeichen. Inzwischen kann man ja mit seinem Smartphone ganz schnell Fotos machen. Ich machte ein Foto von dem Eiffelturm, das war so ein nebliger Tag, der so fast durch den Nebel hindurch schimmerte. Und dann stieg ich in meine Metro runter und unten, ich weiß nicht warum, sehr wahrscheinlich war Alarm, irgendwie ein suspektes Objekt gefunden worden, kam plötzlich Militär mit Maschinenpistolen und ich nahm sie ganz diskret auf und sagte: das neue Wahrzeichen von Paris. Mir fällt das fast gar nicht mehr auf.

Der Fall Théo: Ein Zeichen für die Verrohung der Sitten

Und dann, das ist wohl das Wichtigste, ist ja Frankreich immer noch im Ausnahmezustand. Das bedeutet ganz konkret eine Einschneidung unserer Freiheiten. Ich weiß nicht, ob man darüber berichtet hat hier in Deutschland, aber es kam ja jetzt zu einem Vorfall in den Banlieues in Aulnay-sous-Bois, wo da ein 22-jähriger Mann schwer misshandelt wurde.
Deutschlandradio Kultur: Das ist der Fall Théo.
Gila Lustiger: Genau, der Fall Théo. Vier Polizisten haben ihn misshandelt. Ganz konkret, ich will das hier mal ganz konkret aussprechen, er liegt mit perforiertem Rektum im Krankenhaus. Das heißt, sie haben die Schlagstöcke in den Anus dieses jungen Menschen gerammt, haben auf seine Genitalien eingeschlagen.
Jetzt kann man einerseits sagen, diese vier Polizisten sind Soziopathen. Andererseits muss man sich fragen, und das tue ich immer: Wie ist so was möglich? Wie kommt so was zustande? Und, sowas, denke ich, ist ein Zeichen der Verrohung der Sitten, der Verrohung der Zivilgesellschaft und auch ein Zeichen dafür, dass diese Polizei Feindbilder in ihren Köpfen hat und sehr wahrscheinlich auch überfordert ist von dem, was von ihr abverlangt wird.
Deutschlandradio Kultur: Reagieren wir auf die Barbarei der Anschläge selbst als Barbaren?
Gila Lustiger: Ja, genau so ist es. Es ist genau das. Es ist die Verrohung der Zivilgesellschaft, die hier in diesem einen Fall wieder hervortritt. Und was wirklich auch sehr interessant ist, tags darauf hat Fillon, der ja in der Bredouille steckt mit seinen Korruptionen…
Deutschlandradio Kultur: Fillon ist der Präsidentschaftskandidat der Republikaner, also der Konservativen.
Gila Lustiger: Ja. Und die Satirezeitschrift Le Canard enchaîné hat Ende Januar aufgedeckt, dass Fillon seine Frau jahrelang als parlamentarische Mitarbeiterin beschäftigt hat, aber sie eben fiktiv beschäftigt war und er im Prinzip fast eine Million Steuergelder hinterzogen hat. Über ihm ist das Damoklesschwert einer strafrechtlichen Verfolgung. Er zieht sich dennoch nicht zurück und er hat beschlossen, die Medien mit anderen Themen zu bombardieren. Tags nachdem diese Misshandlung publik wurde, kam es wieder in den Vororten, in den sozialen Brennpunkten zu Krawallen und Ausschreitungen. Die Reaktion des Präsidentschaftsanwärters war, dass er gesagt hat: Er will, dass das Alter der strafgerichtlichen Verfolgung auf 16 Jahre heruntersetzen. Und ich habe, und das ist wichtig, ich habe eine Umfrage im Figaro, das ist eine rechte Zeitung, gelesen: Fast alle seine Wähler stimmen ihm zu.
Das heißt: Wie geht man mit dieser Verrohung um? Und mit wem identifiziert man sich hier? Das ist es, was mich wieder so erschüttert, dass es keine soziale Kohäsion gibt in Frankreich, dass also die rechte Wählerschaft von Fillon sich nicht mit diesem jungen Mann identifiziert, der misshandelt wurde, sondern eben sagt, ja, es kam zu Krawall, also, dass die Kausalität hier nicht vor Augen gebracht wird und dass sie sagen, es kam zu Krawallen. Wir wollen keine Krawalle. Wir wollen, dass diese sozialen Brennpunkte wieder lahm- und stillgelegt werden.

Werden unserer elementaren Gewissheiten beraubt

Deutschlandradio Kultur: Gila Lustiger, das sind jetzt ganz, ganz viele Elemente, die wir so nach und nach versuchen jetzt abzuarbeiten. Lassen Sie uns noch einen Moment zurückgehen zum Ausnahmezustand. Der ist ja ein ums andere Mal verlängert worden. Und Sie haben schon beklagt, dass damit ja die Gesellschaft massiv beeinflusst wird. – Wie macht sich das bei Ihnen auch im Alltag bemerkbar? Und wie erklären Sie sich, Sie wohnen jetzt seit drei Jahrzehnten in Paris, in Frankreich, dass ausgerechnet das Land, das ja die Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit in der Revolution erfochten hat, diese Freiheit so willentlich und locker über Bord wirft? Denn die Mehrheit der Franzosen ist laut Umfragen eindeutig dafür, stets den Ausnahmezustand immer wieder zu verlängern.
Gila Lustiger: Angst! Das macht Angst mit uns. Das ist es ja auch, was ich versucht habe in "Erschütterung" nachzugehen. Was macht Terror mit uns? Da gab es ja auch einen Paradigmawechsel. Ich kann mich erinnern: Als noch verhandelt wurde mit dem Bataclan, die Polizei hat ja mit den Attentätern noch versucht stundenlang zu verhandeln oder versucht mit denen ins Gespräch zu kommen, da rief mich ein Freund aus Israel an und sagte: Ja, warum haben sie diesen Konzertsaal nicht gestürmt? Und daraufhin sagte ich ihm, weil wir in Europa noch nicht wussten und jetzt mit dieser Gewissheit konfrontiert werden, dass es Selbstmordattentäter gibt. Das ist etwas, was wir erstmal haben schlucken müssen.
Und jetzt, der nächste Paradigmenwechsel war eben, dass jemand nicht mal mehr eine Sprengstoffweste zünden muss. Er kann sich einfach einen Lkw nehmen und rammt mit diesem Lkw in eine Menschenmenge. Und wenn Alltagsgegenstände, praktisch wenn alles zur Waffe werden kann, das ist der neue Paradigmawechsel. Und es raubt uns eben unsere elementaren Gewissheiten.
Deutschlandradio Kultur: Die Regierung war damals sehr schnell dabei nach den Attentaten, von "Krieg" zu sprechen. Zwei Fragen dazu: Befinden wir uns nicht eigentlich in einem Bürgerkrieg? Denn die Attentäter kommen aus der Mitte der französischen Gesellschaft oder aus der Gesellschaft, wie im Falle von Abdeslam eines befreundeten europäischen Nachbarlandes - Abdeslam war ja in Belgien groß geworden, in Molenbeek - Bürgerkrieg oder ist überhaupt diese ganze Kriegsrhetorik völlig fehl am Platz? Denn dadurch wertet man einen Islamischen Staat zum Staat auf, denn völkerrechtlich kann man nur Staaten Krieg erklären, und macht ihn eigentlich noch wertvoller als er überhaupt ist.

"Total beeindruckt, wie Merkel auf die Attentate reagiert hat"

Gila Lustiger: Ich bin gegen diese Kriegsrhetorik. Das ist auch etwas, was mich total bestürzt und traurig gemacht hat, dass Francois Hollande am nächsten Tag von Krieg gesprochen hat.
Ich zitiere auch in "Erschütterung" Bloch, glaube ich, der sagt: "Krieg können nur Gleichgestellte führen." Und mich hat total beeindruckt, wie Angela Merkel auf die Attentate in Berlin reagiert hat. In ihrer Ansprache redet sie – der letzte Satz: "Wir lassen uns das Zusammenleben nicht nehmen." Und sie benutzt die Worte "miteinander".
Jetzt überlegen Sie sich mal, was das bedeutet, dass eine Kanzlerin trotz der Attentate als letzten Satz das Wort "miteinander" benutzt, dass wir miteinander leben wollen, und eben Hollande am nächsten Tag den Ausnahmezustand ausruft und von Krieg spricht. Und es ist kein Krieg! Und fast alle Attentäter sind Franzosen gewesen und kamen aus den Banlieues, aus den sozialen Brennpunkten.
Aber in den sozialen Brennpunkten leben auch Menschen, die sich mit Alltagssorgen herumschlagen und die friedlich mit uns zusammenleben wollen. Und von denen haben wir ja jetzt zum ersten Mal erfahren, weil dass die Opfer des Bataclan-Attentates sind, also, den Attentaten in den Cafés und den Restaurants um den Bataclan herum, waren ja auch ganz viele Franzosen, deren Eltern eben aus Nord- und Schwarzafrika kamen.
Deutschlandradio Kultur: Frau Lustiger, also doch ein Bürgerkrieg, wenn man schon von Krieg spricht?

"Es ist Terror, kein Krieg"

Gila Lustiger: Nein, kein Bürgerkrieg. Es ist Terror. Warum können wir das Kind nicht beim Namen nennen. Es ist Terror.
Deutschlandradio Kultur: Terror, der mit Hass auf die Bevölkerung, auf die Gesellschaft zugeht. Und wer Hass sät, wird auch Hass ernten.
Es gab jetzt, Sie haben den Zwischenfall von dem jungen Théo, einem jungen Schwarzen in Aulnay, der Banlieues von Paris, erwähnt, der von den Polizisten misshandelt wurde. Es gab in den vergangenen Jahren auch eine drastische Zunahme der Gewaltakte gegenüber Muslimen, aber vor allen Dingen auch gegenüber Juden. Gerade in den letzten Tagen sind zwei junge Männer, die Kippa trugen, in Bondy von einer Gruppe arabischstämmiger Männer verprügelt worden. Dem einen soll sogar der Finger abgeschnitten worden sein. Wie kann man in diese Spirale des Hasses eindämmen?
Gila Lustiger: Sie machen mich stumm. Ich glaube, man kann einfach nur diejenigen hassen oder man hasst diejenigen, die man nicht kennt. Ich fahre jetzt gleich in zwei Wochen nach Bordeaux in eine Schule, werde zwei Wochen dort mit Schülern der Oberstufe zusammen sein. Und ich werde mit denen über Vorurteile reden. Ich habe mir schon überlegt, wie ich das mache, machen will. Und was ich machen werde, ist, dass ich – da sind ganz viele Kinder, deren Eltern aus Nord- und Schwarzafrika kommen und aus Asien kommen, Frankreich ist ja ein Migrationsland – einfach einmal alle aufschreiben lasse, was für Vorurteile es gibt – gegen Araber, gegen Juden, gegen Dicke, gegen Dünne, gegen Alte, gegen Junge –, und dass ich sie dann in die jenseitigen Familien schicken werde und dass sie mir mal ganz konkret den Alltag der Familie beschreiben sollen – das Frühstück, was man isst. Und ich glaube, wenn man so auf die Leute zu geht, dann kann man Vorurteile abbauen und auch den Hass aufeinander. Aber das ist eben nur möglich in so kleinen Aktionen, wie ich sie jetzt tue. Und die Politiker müssen eigentlich sich immer wieder darauf zurück besinnen, was uns ausmacht.
Deutschlandradio Kultur: Viele suchen auch die Flucht. Gerade von der jüdischen Gemeinde in Frankreich werden Zahlen berichtet. Bis zu 8.000 sind in den letzten Jahren pro Jahr emigriert nach Israel. Im letzten Jahr waren es allerdings nur noch 5.000. – Haben Sie Verständnis für diese Franzosen jüdischen Glaubens, die ihr Land verlassen, ihrem Land den Rücken kehren und nach Israel, wo ja Terror auch alltäglich ist?
Gila Lustiger: Die Leute, die Frankreich verlassen, fühlen sich in dem Land nicht mehr sicher. Und das ist natürlich sehr traurig. Ob ich Verständnis für sie habe? Ich denke, jeder soll selber entscheiden, wo er leben will. Ich habe für alle Menschen, die Angst haben und wegziehen und versuchen angstfrei zu leben, Verständnis. Das ist natürlich fatal und ironisch, dass sie in ein Land ziehen, in dem es auch immer wieder Terroranschläge gibt. Aber die Franzosen jüdischen Glaubens, die nach Israel ziehen, haben eben das Gefühl, das dort ihre Ängste für wichtig erachtet werden und dass sie eben Teil sind einer kollektiven Geschichte.
Deutschlandradio Kultur: Gila Lustiger, Sie haben ja – wir haben auch eben schon drüber gesprochen – viel sich in den Banlieues, in den kritischen Wohnvierteln in Frankreich aufgehalten, auch für Ihre Bücher recherchiert. Nahezu fünf Millionen Franzosen leben in solchen Vierteln. Und Sie schreiben in "Erschütterung": "Weder die Sozialisten, noch die Konservativen, die seit Jahrzehnten im Wechsel an die Macht gewählt werden, haben es vermocht, in den Einwandererkindern je etwas anderes zu sehen als eine Bürde, die sie zu tragen verpflichtet waren.
Wenn wir jetzt mal die Wahlprogramme der Kandidaten und vor allen Dingen der aussichtsreichsten Kandidaten für die Präsidentschaftswahl Ende April Revue passieren lassen, haben Sie irgendwas entdeckt, was für die Banlieues, für die Integration dieser vernachlässigten Personengruppen wäre?
Gila Lustiger: Ich bin schon mal gegen das Wort Integration. Warum? Weil das Franzosen sind. Die sind dort geboren. Die leben, sind dort aufgewachsen, sind dort in die Schule gegangen. Was sie unterscheidet von den anderen, ist die Segregation und die Arbeitslosigkeit und die Armut.
Deutschlandradio Kultur: Wenn man segregiert ist, muss man aber wieder integriert oder reintegriert werden. Sagen wir, die Leute waren nie richtig Teil der Gesellschaft.

"Le Pen könnte Präsidentin Frankreichs werden"

Gila Lustiger: Sie waren, aber sie sind Teil der Gesellschaft. Sie werden nur nicht als solche wahrgenommen. Auch in ihrem Selbstempfinden nehmen sie sich auch nicht als Teil der Gesellschaft wahr. Sie fühlen sich ausgegrenzt.
Aber, ich möchte jetzt auf sie zu sprechen kommen: Eigentlich, wenn man sich das Mal überlegt, in den meisten Vororten leben Menschen, die multikulturell aufwachsen, die schon mal von ihrer frühesten Kindheit an fünf, sechs, sieben Sprachen hören, die zwischen den Kulturen wandern können, die das sind, was wir heute alle sein müssen und was man von jedem Manager verlangt, nämlich die mobil sind, die transversal denken können. Das sind diese Kinder. So werden die groß.
Wenn man das, anstatt es als Bürde zu empfinden, als Bereicherung Frankreich endlich einmal erachten würde, wenn man sich sagen würde, das ist wunderbares Material, hier können wir was schaffen, diese Leute müssen wir fördern, dann sähe Frankreich ganz anders aus.
Deutschlandradio Kultur: Aber gibt es einen Präsidentschaftskandidaten oder eine Kandidatin, die dieses Potenzial abschöpfen möchte? Haben Sie irgendwas in den Programmen entdecken können?
Gila Lustiger: Natürlich nicht.
Deutschlandradio Kultur: Aber andererseits droht uns ja vielleicht eine noch größere Zeitenwende als die, die Sie ja in Ihrem Buch "Erschütterung" mit 2015, Januar, beschrieben haben. Denn es ist ja nicht ganz und völlig auszuschließen, dass Marine Le Pen, die Präsidentin des Front National und Kandidatin dieser rechtsradikalen Partei zur Präsidentin Frankreichs gewählt würde. Wie groß ist Ihre Angst? Glauben Sie, sie könnte es tatsächlich schaffen?
Gila Lustiger: Ja. Ich befürchte es.
Deutschlandradio Kultur: Unter welcher Konstellation?
Gila Lustiger: Ich möchte Ihnen von einem Phänomen erzählen. Das fiel mir gerade gestern auf. Fillon, das ist der rechte Kandidat, der republikanische Kandidat, wurde ja damals in den Stichwahlen auch gewählt, weil er der Außenseiter war. Also, die zwei Spitzenkandidaten waren Juppé und Sarkozy. Fillon, der Premierminister unter Sarkozy war, hieß ja jahrelang Mister Nobody. So nannte man ihn, weil er kein Profil hatte und von Sarkozy auch wirklich misshandelt wurde, geächtet wurde. Und die Franzosen haben Mr. Nobody an die Macht gewählt.
Und wenn Sie sich mal anschauen, was alle Kandidaten sagen, alle, sei es Melenchon…
Deutschlandradio Kultur: Melenchon ist der Kandidat der Linken.
Gila Lustiger: Hamon, auch der Linken, der Sozialisten. Macron…
Deutschlandradio Kultur: Der weder links noch rechts sein möchte.
Gila Lustiger: Ja. Und Marine Le Pen, alle, alle, alle zetern sie gegen das Establishment. Und alle stellen sich als die Kandidaten des Randes oder des Außenseitertums dar.
Macron sagt, die Parteien, das ist überholt, das ist sklerosiert und überholt. Er ist weder links, noch rechts. Marine Le Pen sagt, das sind die Eliten da und ich bin eine vom Volk. Ihre Wahlkampagne heißt: Au nom du peuple - im Namen des Volkes. Fillon, Hamon, der Sozialist, ist ein "frondeu"‘ (Abtrünniger Anm. der Red.), das heißt, er hat mit der Partei gebrochen und ist in Rebellion gegen die Partei. Fillon war Mr. Nobody und ist gewählt worden.
Was sagt das über den Glauben an die politischen Instanzen aus? Was sagt das über die politische Demokratie? Was sagt es überhaupt über die Demokratie aus, wenn alle Präsidentschaftsanwärter glauben, dass sie nur eine Chance haben, wenn sie von sich selber behaupten, dass sie nicht dazu gehören?
Deutschlandradio Kultur: Ist das das Phänomen Trump, übertragen jetzt auf die französische Politik, Frau Lustiger?

Le Pen, Macron, Hamon – sie alle gehören zum Establishment

Gila Lustiger: Ich frage mich: Ist das ein französisches Phänomen? Ist dieses Misstrauen in unsere demokratischen Parteien ein französisches Phänomen oder ist es ein Phänomen ganz allgemein?
Ganz egal, ob es nun ein französisches oder ein ganz allgemeines Problem ist, hat die Person, die am glaubwürdigsten uns weismachen kann, weil, sie sind natürlich, alle gehören sie zum Establishment dazu, ja. Macron kommt aus der Kaderschmiede ENA. Und auch Marine Le Pen ist eine Profipolitikerin. Hamon, der Sozialist, ist ein Apparatschik, hat seine Karriere in der Sozialistischen Partei gemacht.
Wenn die die Wahlen gewinnen werden, die uns verkaufen können, dass sie Außenseiter sind, was bedeutet das für unsere politischen Instanzen? Das habe ich mich letztens gerade gefragt.
Deutschlandradio Kultur: Nun, in Frankreich ist ja im Gegensatz zu Deutschland noch viel gebräuchlicher, dass zu einem guten Politiker entweder eine Affäre oder auch ein Skandal dazu gehört. Wenn man sich das anschaut, alle die auch in den Vorwahlen angetreten waren, waren skandalbehaftet. Der frühere Präsident Sarkozy hat mehrere Gerichtsverfahren am Hals. Und jetzt gibt es natürlich die ganz konkreten Vorwürfe, Sie haben es ja schon eingangs erwähnt, gegen François Fillon, den Kandidaten der Republikaner, der gerade erst diese Woche wieder gesagt hat: "Ungeachtet auch der Tatsache, dass ich jetzt mich verhören lassen muss am 15. März, mache ich weiter." Und der hat das Ganze sogar als eine "Medienkampagne gegen ihn", als eine "Verletzung der Unschuldsvermutung, die in jedem Fall bei einem Angeklagten oder Beschuldigten gelten müsste", dargestellt.
Ist es nicht so, dass die Eliten in Frankreich alles tun, und auch die sozialistische Regierung alles dafür getan hat, um eben das Vertrauen in sie zu zerstören? Denn, um die Sozialisten nochmal zu erwähnen, es gab einen Finanzminister – Cahuzac -, der zuständig war fürs Steuereintreiben, der selbst Schwarzgeldkonten von mehr als einer halben Million in Singapur hatte. – Was läuft schief?
Gila Lustiger: Ich war ganz besessen von Fillon.
Deutschlandradio Kultur: In welchem Sinne?
Gila Lustiger: Hier ist ein Mann, der ganz schwere Einschnitte fordert, der eine halbe Million Beamte entlassen will, der das Rentenalter hoch setzen will, der also sagt, man muss den Gürtel enger ziehen, der sich als Saubermann darstellt, der von sich selber behauptet, dass er als einziger der Anwärter nicht korrupt ist. Und ich fragte mich, nachdem ich die Enthüllungen beim Le Canard enchaîné gelesen habe, …
Deutschlandradio Kultur: Einer Satirezeitung.
Gila Lustiger: ... einer Satirezeitung, die Anfang Januar eben berichtet hat, dass er Steuergelder hinterzogen hat, und zwar nicht wenig, sondern fast eine Million.

Parlamentarier stellen ihre Frauen oder Kinder an

Deutschlandradio Kultur: Also, Sie nennen es Steuerhinterziehung. Er streitet das natürlich ab. Wir sollten den Hörern nochmal erklären…
Gila Lustiger: Er hat 15 Jahre lang seine Frau als Parlamentsassistentin angestellt. Die Frau hat aber in mehreren Interviews, die sie über die Jahre hin gegeben hat, immer wieder beteuert und gesagt und behauptet, dass sie nicht arbeitet, sondern ihre Kinder erzieht und reitet.
Deutschlandradio Kultur: Außerdem hat er auch noch seine eigenen Kinder zeitweilig angestellt.
Gila Lustiger: Und er hat seine zwei Kinder angestellt, die Studenten waren, und auch zu unverschämt hohen Gehältern. Und dann hat die Frau auch noch für einen Freund von ihm, der ein großer französischer Industrieller ist, in der Zeitung, die er hat, in Le Monde, ein Gehalt von 5000 Euro bezogen monatlich. Da hat er aber auch nicht gearbeitet. Der Chefredakteur hat ein Interview gegeben und hat gesagt dieser Zeitung, dass er diese Frau nie gesehen hätte und sie an keiner Redaktionssitzung teilgenommen hat. Also, es besteht kein Zweifel daran, dass die Frau von Fillon eben diese Gelder und diese Gehälter bekommen hat. Und dann hat sie auch noch Arbeitslosengeld bekommen. Also, dass sie diese ganzen Gelder bekommen hat, ohne überhaupt zu arbeiten.
Deutschlandradio Kultur: Müsste Fillon seine Kandidatur zurückziehen?
Gila Lustiger: Ja, natürlich. Ich habe mir überlegt, deshalb war ich so fasziniert von diesem Mann: Wieso erachtet er sich als ungerecht behandelt? Er hat sich nicht mal entschuldigt. Was geschieht in dem Kopf dieses Mannes?
Ich habe mit einigen Bekannten gesprochen, die aus dem Milieu sind. Und sie sagten mir: Ja, er macht das, was eigentlich alle gemacht haben. Und ich habe darüber einen Artikel gelesen im Nouvel Obs. Zwanzig Prozent der Parlamentarier stellen ihre Frauen oder Kinder an.
Deutschlandradio Kultur: Was legal ist in Frankreich, das muss man sagen, aber nur bis zu fünfzig Prozent der Pauschale. Und sie sollten natürlich effektive Arbeitsleistung erbringen.
Gila Lustiger: Aber das sind für Deutschland unerhörte Verhältnisse. Und die Zeiten haben sich geändert. So was wird nicht mehr akzeptiert. Und das ist es, was Fillon eben nicht versteht. Und ich habe, nachdem auch publik wurde, dass er seine Kinder eingestellt hat und sein Sohn hat, glaube ich, 7.000 Euro im Monat verdient als Student, gab es einen wunderbaren Hashtag. Und das ist wirklich die Diskrepanz. Der Hastag hieß: #IchbinkeinKindvonFillon.
Das war ein Twitter-Hashtag. Das sind Zweizeiler. In dem Zweizeiler haben einfach junge Menschen in Frankreich mal ihren Alltag beschrieben – mit dem Neun-Quadratmeter-Studio für 600 Euro, mit dem permanenten Geldmangel, dem Alltag vieler, vieler junger Menschen in Frankreich. Und diese Diskrepanz, das wollen sich die Franzosen halt nicht mehr gefallen lassen.

Le Pens Wahlversprechen: "Unhaltbar, fast alles unhaltbar"

Deutschlandradio Kultur: Und deshalb befürchten Sie, dass Marine Le Pen wirklich eine Chance hätte? Aber wenn man alle Umfragen sich anschaut, müsste eigentlich doch, was man diesen republikanischen Reflex nennt, eintreten. Republikanisch nicht im Sinne der Partei Republikaner, sondern im Sinne der Republik, der Demokratie in Frankreich, dass dann in der zweiten Runde alle mehr oder weniger, die eben nicht Frau Le Pen wünschen, sich vereinen und vielleicht auch widerwärtig dann für den jeweils anderen Kandidaten stimmen.
Gila Lustiger: Der andere Kandidat wird voraussichtlich Macron sein. Jetzt schauen Sie sich mal das Programm von Marine Le Pen an. Marine Le Pen hat fast das gleiche soziale oder wirtschaftliche Programm wie so ein links-radikaler Melenchon. In Deutschland ist es ja auch so, dass die extrem Linken und die extrem Rechten in Wirtschaftsprogrammen sich manchmal gleichen. Sie ist für einen Protektionismus. Sie ist dafür, die Sozialabgaben zu erhöhen, für Franzosen, nicht für Menschen mit Migrationshintergrund.
Deutschlandradio Kultur: Also, zum Teil unhaltbare Versprechen.
Gila Lustiger: Unhaltbar, fast alles unhaltbar. Man muss sich das mal durchrechnen. Man fragt sich, wie sie das alles finanzieren will.
Deutschlandradio Kultur: Aber warum hat sie so ein Appeal? Warum kommt sie damit beim Wähler an?
Gila Lustiger: Sie ist eben die Politikerin des kleinen Volkes. Sie redet natürlich von der Bedrohung des Islam, aber ihr Buhmann ist nicht der Islam. Ihr Feind ist Brüssel. Sie redet über den "Moloch Brüssel". Ihr Feind ist Europa. Und ihr Feind sind die Eliten. Und wenn sie in einer Provence, in einer ehemaligen Industriestadt leben, in denen es seit den 70er Jahren Arbeitslosigkeit gibt, endemische Arbeitslosigkeit dreißig Prozent, und Sie haben dann den anderen Anwärter, Macron, der ein 39-jähriger ehemaliger Investmentbanker ist…
Deutschlandradio Kultur: und Wirtschaftsminister war.
Gila Lustiger: Wirtschaftsminister war und Reformen durchgezogen hat, die liberal sind, und der gut aussieht und charmant ist und redegewandt ist und belesen und Pariser. – Also, ich kann mir schon vorstellen, dass die Leute ihn hassen, wenn sie aus der Provinz kommen uns sich ausgegrenzt fühlen und arbeitslos sind und diesen jungen gebildeten Mann sehen, dass sie dann Marine wählen.
Deutschlandradio Kultur: Will aber Macron nicht die bürgerliche Mitte erreichen und da eben die klassische Trennung zwischen Links und Rechts in Frankreich aufbrechen?
Gila Lustiger: Ja, das will er. Die Frage ist: Was macht man mit dem Volk? Was macht man mit den Menschen, die sich eben ausgegrenzt fühlen? Ich meine, dass fast alle, die jetzt antreten, sich selber als Außenseiter beschreiben, muss uns doch schon beunruhigen, finde ich.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie es nochmal in einem kurzen Paragraphen zusammenfassen müssten, warum Sie Marine Le Pen eine reelle Chance einräumen, diese Präsidentschaftswahl zu gewinnen in Frankreich.

"Im Prinzip arbeitet Marine Le Pen ja ähnlich wie Donald Trump mit Fake News"

Gila Lustiger: Weil sie, obwohl sie zur Elite dazu gehört, ihre ganze Wahlkampagne als David gegen Goliath, als David aufbaut. Sie sagt, dass sie eine von dem Volk ist, für das Volk ist, aus der Mitte des Volkes redet, dass sie gegen die Eliten ist – sie gehört dazu, sie gehört zum Establishment dazu – und sie in jedem einzelnen Interview, das sie gibt, immer wieder ein Feindbild hat und das thematisiert. Das sind die Eliten, es sind die Eliten, es sind die Eliten. In Paris, es sind die gebildeten Eliten. Es sind die korrupten Eliten. Und sie redet dem Volk aus seinem Herzen.
Marine Le Pen darf man wirklich nicht unterschätzen. Marine Le Pen vermeidet es, Menschen auszugrenzen. Man wird keine einzige antisemitische oder rassistische Bemerkung bei ihr hören. Aber sie weiß ganz genau, was die Leute umtreibt und sie blickt dem kleinen Mann nicht nur aufs Maul, sie blickt ihm ins Herz.
Deutschlandradio Kultur: Können Sie verstehen, dass Juden in Frankreich und Leute, die aus der Emigration stammen oder einen Migrationshintergrund haben, Front National wählen?
Gila Lustiger: Die wählen sie. Überlegen Sie sich das mal" Es gibt viele unter ihren Wählern, die selber Muslime sind oder aus Schwarzafrika kommen oder Juden sind. Sie wählen sie. Sie wählen sie, und dass sie sie wählen, beweist doch, wie gewieft diese Frau ist. Sie verspricht ihnen, dass sie sich um sie kümmern wird. Das heißt, beweist Ihnen ja wie sehr sich die Leute eben nicht abgehängt fühlen und wie sehr sie das Gefühl habe, dass die Politiker und die etablierten Parteien sich nicht um ihr Anliegen kümmern.
Deutschlandradio Kultur: Im Prinzip arbeitet Marine Le Pen ja ähnlich wie Donald Trump mit Fake News. Das heißt, sie verspricht, es würde alles besser, wenn Frankreich aus dem Euro ginge, obwohl jeder Ökonom ausrechnen kann, dass die Schuldenlast dann stiege, weil der Franc abgewertet werden müsste usw. – Inwieweit ist die Verzerrung der Realität – auch durch die Medien in Frankreich, auch der Einfluss vielleicht russischer Hacker und Bots – ein Problem in dieser Wahl?
Gila Lustiger: Weltweit, habe ich das Gefühl, sprechen die Leute eher auf emotionale und sehr einfache Parolen an, als auf wirkliche Fakten – weltweit. Und die Person, die zum Beispiel ganz sachlich bei den Republikanern damals das Wahlprogramm vorgetragen hat, ganz sachlich und auch ganz konkret aufgefächert, was er gerne tun würde, Juppé, hat die Wahlen verloren.
Ich glaube, es ist weltweit ein Phänomen, dass die Populisten einfach ganz einfache, auch falsche Sachen behaupten, aber die eben – und das haben Populisten so an sich – eigentlich sich logisch anhören.
Deutschlandradio Kultur: Zum Schluss Ihre Prognose für die Wahl: Wie geht’s aus?
Gila Lustiger: Ich hoffe, Macron gewinnt die Wahl.

Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main als Tochter des deutsch-jüdischen Historikers Arno Lustiger geboren. Zum Studium der Germanistik und Komparatistik ging sie 1981 nach Israel. 1987 siedelte sie nach Paris über, wo sie als Journalistin, Lektorin und jetzt nur noch als Schriftstellerin tätig ist. Mit dem autobiographischen Roman "So sind wir", in dem sie die Geschichte einer jüdischen Familie im Nachkriegsdeutschland schildert, erzielte Lustiger einen Publikumserfolg. Das Buch stand 2005 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Ihr Kriminal- und Gesellschaftsroman "Die Schuld der anderen" wurde 2015 zum Bestseller. Vergangenes Jahr veröffentlichte sie das essayistische Werk "Erschütterung", in dem sie sich mit den Folgen der Terroranschläge auseinandersetzt.

Die Schriftstellerin Gila Lustiger
© dpa / Jörg Carstensen
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