Autor Klaus Cäsar Zehrer über William James Sidis

"Ein exzentrisches Genie hat immer etwas Spannendes"

Der Autor Klaus Cäsar Zehrer.
Der Autor Klaus Cäsar Zehrer. © Steffi Roßdeutscher/ © Diogenes Verlag
Klaus Cäsar Zehrer im Gespräch mit Andrea Gerk · 18.09.2017
William James Sidis beherrschte bereits als Sechsjähriger zehn Sprachen und soll intelligenter als Einstein, Newton und Da Vinci gewesen sein. Klaus Cäsar Zehrer hat seine außergewöhnliche Geschichte in einem Roman verarbeitet. Uns erzählt er, wie er den Stoff entdeckte.
Andrea Gerk: Als er vier Jahre alt war, hatte er sich schon Latein und Griechisch beigebracht, mit sechs sprach er zehn Sprachen und als Zehnjähriger referierte er schließlich vor Professoren in Harvard über seine Theorie der vierten Dimension. Der 1898 in New York geborene William Sidis war ein Wunderkind und bis heute hält sein Intelligenzquotient den Weltrekord. Als Erwachsener brach er aber aus, denn diese ungewöhnliche Begabung war nicht zuletzt das Ergebnis des unermüdlichen Ehrgeizes seines Vaters Boris, der an seinem Sohn demonstrieren wollte, dass sich jedes Kind mit der richtigen Förderung zum Genie erziehen lässt.
Die Geschichte von William James Sidis und seinen Eltern erzählt Klaus Cäsar Zehrer in seinem Debütroman "Das Genie", und jetzt ist er bei mir im Studio. Guten Tag, Herr Zehrer!
Klaus Cäsar Zehrer: Ja, schönen guten Tag!
Gerk: Das ist ja wirklich eine total faszinierende Geschichte. Wenn man die in Ihrem Roman so liest, wundert man sich, dass da nicht schon mal jemand auf die Idee gekommen ist, das zu verarbeiten. Wie sind Sie denn auf diese Geschichte gestoßen? Man kennt den ja gar nicht, diesen William Sidis!
Zehrer: Ich kannte ich auch nicht und bin nur sehr zufällig darauf gestoßen, als ich vor mittlerweile knapp neun Jahren mal im Internet auf eine Liste gestoßen bin. Diese Listen gibt es immer wieder, die zehn Größten, zehn Besten, zehn sonst was, von denen ist meistens nicht allzu viel zu halten. Aber in dem Fall war es eine Liste der angeblich zehn intelligentesten Menschen aller Zeiten und da waren einige Namen drauf, die ich gut kannte, da war Albert Einstein drauf, da war Isaac Newton drauf, da war Leonardo da Vinci drauf, alles wohl bekannte Namen, und auf Platz eins dieser Liste war ein mir vollkommen unbekannter William James Sidis. Und ich wusste nicht, was das sein soll, aber ich ahnte schon, dass das eine interessante Geschichte sein muss.
Wenn es jemanden gibt, der diese alle offenbar in irgendeiner Art und Weise übertrumpft hat, aber man weiß nichts von ihm, muss ja irgendetwas dahinterstehen. Und ich wurde dann neugierig und habe weitergesucht und stieß dann erst mal auf die Formulierung: "das exzentrische Genie William James Sidis". Und da war ich natürlich sofort neugierig, ein exzentrisches Genie, das muss immer etwas Spannendes sein und so war es dann auch.

Archiv-Fundstück: Bereits 2009 befasste sich Zehrer in unserer Reihe "Kalenderblatt" mit William James Sidis - hier können Sie seinen Text nachlesen.

Eine künstlerische Verarbeitung fehlte noch

Gerk: Und wo haben Sie dann überhaupt Material zu ihm gefunden?
Zehrer: Es gibt nicht allzu viel, vor allem in Deutschland war er praktisch vollkommen vergessen, in Amerika auch für lange Zeit. Aber in den 70er-Jahren, etwa 30 Jahre nach seinem Tod, gab es Menschen, die angefangen haben, sich für diese Geschichte zu interessieren und die wiederzuentdecken und Material zu sammeln. Und die hatten das Glück, dass sie noch mit Zeitgenossen sprechen konnten, etwa die jüngere Schwester von William James Sidis lebte damals noch und die hat Material gesammelt und die konnte viel erzählen. Und so gab es dann eine recht umfassende Materialsammlung.
Dieses Leben ist einigermaßen gut beglaubigt. In den 80er-Jahren wurde dann in den USA eine Biografie geschrieben, die längst vergriffen ist und auch nur auf Englisch erschienen ist, von Amy Wallace, die den ganzen Stoff auf biografische Weise, als Sachbuch ganz gut zusammengefasst hat. Also, das Material liegt vor, was es eben die ganze Zeit über, über Jahrzehnte nicht gab, war eine künstlerische Verarbeitung als Roman oder als Film.
Gerk: Jetzt ist ja dieser William Sidis nicht so übertalentiert auf die Welt gekommen, sondern das ist ja das Ergebnis seines Vaters und seiner Eltern. Boris Sidis hatte sich ja da eben so ein System überlegt, wie man aus so einem Kind quasi ein Wunderkind macht. Wie hat denn das funktioniert? Da ist man natürlich … In heutigen Zeiten, wo alle immer über Leistung, Bildung reden, ist das eigentlich sehr interessant! Wie funktioniert denn die Methode Sidis?

"An der Wiege mit griechischen Sagen angefangen"

Zehrer: Ja, der Vater war tatsächlich als Psychologe, als einer der ersten Psychologen und Psychotherapeuten seiner Zeit – damals war er auch ein bekannter Mann – felsenfest davon überzeugt, dass Intelligenz nichts mit Vererbung und dergleichen zu tun hat, sondern dass jeder Mensch als sozusagen leere Kiste auf die Welt kommt, und es kommt nur darauf an, wie man sie füllt. Das ist natürlich eine auch aus heutiger Sicht äußerst zweifelhafte Ansicht, aber er war tatsächlich der Meinung, man kann jedes Kind zum Genie erziehen, wenn man es macht wie er mit seinem eigenen Kind und das Kind nach der Sidis-Methode erzieht.
Und da gehören viele Elemente dazu, die für uns heute fast alltäglich und selbstverständlich klingen, in der Zeit damals aber sehr modern und neuartig und fortschrittlich waren. Da gehört eine extreme Form der Früherziehung dazu, er hat praktisch schon in der Wiege angefangen, mit dem Kind Übungen zu machen. Die Eltern haben dem Kind nie Kinderlieder vorgesungen, Kinderbücher vorgelesen, sondern sofort an der Wiege mit griechischen Sagen angefangen. Der Vater Boris war von Beruf Hypnosetherapeut, hat sich auch wissenschaftlich mit den Themen Hypnose und Suggestion beschäftigt und hat seine Erkenntnisse dann auch auf die Kindererziehung übertragen. Das hätte man dann Jahrzehnte später Superlearning genannt, die Prinzipien sind nicht so viel anders.
Dann war er ein großer Freund von spielerischem Lernen, auch das heute … Wir kennen es nicht als Sidis-Methode, aber dass ein Kind besonders dann schnell und einfach lernt, wenn es nicht dazu gezwungen wird, wenn es nicht pauken muss, sondern wenn es auf spielerische Weise dazu verlockt wird, ist uns auch nichts Fremdes.
Gerk: Aber dieser Boris Sidis ist ja auch schon von Anfang an in Ihrem Roman so eine zwiespältige Figur, finde ich. Der ist einerseits eben so ein Freidenker und so ein Reformer und selbst natürlich auch schon wahnsinnig intelligent und kann auch sehr viel, aber gleichzeitig so ein ganz gefühlsgestörter Mensch, wo man sich dann auch wahrscheinlich fragt: Wie ist der mit diesem Kind umgegangen? Hat das nicht auch eine gewisse Grausamkeit?
Zehrer: Das ist richtig, die Figur ist äußerst ambivalent. Zum einen ist er tatsächlich fortschrittlich, ist er modern, gerade wenn man das vor dem Hintergrund betrachtet, wie damals Erziehung normalerweise ausgesehen hat, nämlich auswendig büffeln und Rohrstock, und das wollte er überwinden. Und er wollte, dass dadurch ein freieres und glücklicheres Menschengeschlecht heranwächst, das selbstständig denkt. Und dagegen ist ja nun erst mal nichts zu sagen, aber er hat das mit einer derartigen Verbissenheit durchgepeitscht, dass am Ende man sich fragen muss, ob der Erfolg oder der Misserfolg dann größer war bei diesem Experiment, das er mit seinem Sohn angestellt hat. Spektakulär waren die Ergebnisse auf jeden Fall.

"Große Schwierigkeiten gehabt, Gleichgesinnte zu finden"

Gerk: Der ist ja aber nicht glücklich damit geworden, der Sohn?
Zehrer: Das ist die andere ambivalente Frage, wie ging er durchs Leben und was ist aus ihm geworden? Er war mit Sicherheit kein glücklicher Mensch, aber ob er selbst daran schuld war oder ob er selbst für sich gewünscht hätte, er wäre nicht nach dieser Methode erzogen worden oder wie ein normaler Mensch gewesen, ist wieder eine andere Frage. Ich glaube, er war nicht unglücklich mit sich, sondern eher mit der Gesellschaft. Er hat große Schwierigkeiten gehabt, Gleichgesinnte zu finden, logischerweise. Wenn man mit sieben Jahren die Zulassungsprüfung zum MIT besteht und zur Harvard University und den Highschool-Abschluss in der Tasche hat, da findet man wenige Kinder, mit denen man spielen kann. Das hat ihn zeitlebens zu einem sehr einsamen Menschen gemacht.
Gerk: Das heißt, je mehr man weiß, muss man nicht unbedingt auch immer glücklicher werden. Das ist ja bei diesen Geistesgrößen oft. Ich dachte gerade, wo Sie das sagen, an Carl Friedrich Gauß in Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt", der ist ja auch allen anderen voraus und fühlt sich natürlich, wie Sie sagen, extrem einsam.
Zehrer: Richtig, das ist so. Einsame Spitze zu sein, in welchem Bereich auch immer, ist erst mal das: einsam.
Gerk: Was denken Sie, warum wir diesen William Sidis und überhaupt diese Methode Sidis gar nicht kennen? Wo ist es hin verschwunden?
Zehrer: Zu seiner Zeit, also auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit, das war um 1910, war er in Amerika tatsächlich ein Star. Die Zeitungen waren voll damit, die "New York Times" hat ständig über ihn berichtet auf Seite eins, wenn er auch nur krank geworden ist, und man hatte größte Hoffnungen … Er wurde in einer Zeitungsüberschrift als der größte Mathematiker aller Zeiten bezeichnet, da war er gerade mal acht Jahre alt.

"Man hat ihn einfach nicht alleingelassen"

Gerk: Wurde er so vorgeführt oder …
Zehrer: Ja, das wurde er. Sowohl von seinen Eltern, die ihn als den lebenden Beweis für den Erfolg der Erziehungsmethode, als Reklamefigur benutzt haben, und von der Öffentlichkeit, erst mal wohlmeinend, die Zeitungen waren begeistert, aber er konnte das alles überhaupt nicht leiden. Er wollte für sich ein zurückgezogenes Gelehrtenleben führen. Das war für ihn schon als Kind und als Jugendlicher klar. Aber man hat ihn einfach nicht alleingelassen, man hat ihn nicht in Ruhe gelassen. Und dann hat er angefangen, sich mehr und mehr von dieser Gesellschaft zu entfremden und sich von ihr abzuschotten.
Gerk: Wenn man Ihren Roman so liest, dann ist es einerseits eine irrsinnig faszinierende Geschichte, die Sie da erzählen, man liest es wirklich so begeistert weg. Aber man bleibt auch nicht so in dieser Geschichte nur hängen, sondern fragt sich natürlich auch: Was hat das mit uns heute zu tun, mit diesem Wahn immer, sich zu optimieren und immer effizient zu sein? Haben Sie Antworten darauf gefunden während der Arbeit an diesem Buch?
Zehrer: Ja, das ist natürlich so, dass die Geschichte einerseits ein interessanter historischer Stoff ist, aber wenn es nur eine interessante Geschichte von vor 100 Jahren wäre, die mit unserer heutigen Zeit nichts zu tun hat, dann hätte ich da nicht jahrelang dran gesessen, um es zu einem Roman zu verarbeiten. Sondern ich hatte auf Schritt und Tritt das Gefühl, das sind Themen, die uns heute genauso beschäftigen oder noch viel mehr beschäftigen als damals den Boris Sidis und sein Umfeld. Und das Thema, was ist richtige, geglückte Erziehung, was gehört dazu, zu einem vollkommenen Menschen, und wie kann man ein Kind bestmöglich fördern, damit es ein glückliches und erfolgreiches Leben führen kann, diese Fragen stellen wir uns natürlich heute immer wieder.
Und die Antworten, die oft gegeben werden, sind sehr ähnlich zu denen, die Boris damals gefunden hat, nämlich Bildung, Bildung, Bildung. Dass man es damit auch übertreiben kann und dass daraus noch keine vollendete, abgerundete Persönlichkeit entstehen muss, das zeigt dieses Beispiel sehr exemplarisch.
Gerk: Klaus Cäsar Zehrer, vielen Dank für dieses Gespräch!
Zehrer: Ja, ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Klaus Cäsar Zehrer: "Das Genie"
Zürcher Diogenes Verlag
650 Seiten, 25 Euro

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