Aussteiger ohne Heidi-Ambitionen

Von Christiane Seiler · 03.09.2009
Südtirol grenzt im Westen an den Schweizer Kanton Graubünden. Die Fahrt dorthin ist nicht sehr weit, mit dem Auto braucht man je nach Ziel höchstens fünf Stunden. Dass Landarbeiter aus Südtirol saisonweise in die Schweiz gehen, hat Tradition. Im Winter gehen viele Holzarbeiter ins Nachbarland und im Sommer bewirtschaften Südtiroler vor allem aus dem Vinschgau oder dem Passeiertal Bündner Almen, melken die Milchkühe oder hüten das Jungvieh – obwohl das Lohngefälle längst nicht mehr so groß ist wie noch vor einigen Jahren.
Es ist zehn Uhr morgens auf der Bruchalp, einer Alm oberhalb des Dorfes Tschappina, 35 Kilometer südlich von Chur. Rosi Sartori und Erwin Moser stehen in langen weißen Schürzen und weißen Gummistiefeln in der Käserei der Alpgenossenschaft. Sie spritzt den Fliesenboden ab, er wendet die frischen, schweren Käselaibe in den runden Formen. In der Mitte des Raums prangt ein riesiger Milchkessel aus Kupfer. Fünf Stunden Arbeit liegen bereits hinter dem Paar: Kühe melken, Stall ausmisten, Käsen. Die beiden stammen aus Sankt Leonhard im Südtiroler Passeiertal und verbringen den Sommer auf der Alp in der Schweiz:

Moser: "Na, na, des sein net Ferien, des ist zum Geldverdienen. Die andere Zeit wird separat gearbeitet."
Sartori: "Im Winter müssen wir uns wieder nen Job suchen."

Rosi Sartori und Erwin Moser sind Saisonarbeiter. Zusammen bekommen sie 370 Franken brutto täglich, umgerechnet 246 Euro, ohne Feiertag und Wochenende. In fast drei Monaten verarbeiten sie für die Bauern rund 43.000 Liter Milch zu 4 Tonnen Käse und 500 Kilo Butter. Moser war als Kind schon Hirte:

Moser: "Wo ich von der Mittelschule ausgeschult bin, habe ich Prüfung gehabt, da haben sie ober der Schule auf dem Parkplatz gewartet, ich hab die Leute nicht gekennt. Am letzten Tag. Da bin ich eingestiegen mit die und in die Schweiz gefahren. Auf die Alm vor drei Monate. Um drei Uhr in der Früh hatten wir rausmüssen, da war ich vierzehn Jahre alt. Und die andere Zeit hast du müssen mit zu dem Jungvieh schauen gehen, oder zu den Mutterkühen mitgehen. Da hat’s nicht gehen, das mach ich nicht oder das kann ich nicht."

Mosers Lebensgefährtin Rosi Sartori ist Mitte vierzig. Sie wuchs auf dem Bauernhof ihrer Großeltern auf, ihre Mutter starb früh. Der Vater durfte seine Tochter nicht besuchen, weil er Italiener war. Die Großeltern hatten es verboten.

Sartori: "Ich hab mich in der Schule geschämt, einen italienischen Namen zu haben. Ich fühlte mich immer als Außenseiter, alle hatten einen deutschen Namen. Immer dachte ich, wieso darf ich nicht einen deutschen Namen haben, dann würde ich dazu gehören."

Dass Tiroler zur Landarbeit in die Schweiz kommen, hat Tradition. Manchmal leben im Sommer ganze Großfamilien auf Schweizer Almen und teilen sich die Arbeit. In diesem Jahr werden im Kanton Graubünden von den 205 Almen mit Milchkühen schätzungsweise ein Fünftel von Südtirolern bewirtschaftet. Für Rosi Sartori ist es schon der siebte Sommer auf dem Berg. Im Winter hat sie in ihrer Heimat mehrere Putzstellen, ihr Partner arbeitet auf dem Bau. Aus der Ferne wirft sie einen kritischen Blick auf die Zustände in ihrer Heimat:

Sartori: "Bei uns ist das fanatische Schützending und das Anti-Italienische, und so Hetzkampagnen sind in allem noch do. Die Schweizer wären eher toleranter, wenn du da als Immigrant herkämst, zum Teil sind sie vielleicht uns einen Schritt voraus auch."

Am Sonntag ist Alpfest. An langen Tischen genießen Familien mit ihren Kindern Käse und Bratwurst. Draußen singt der Jodelchor, in der Küche der Sennerei sitzen drei Bauern auf der Eckbank: der Alpmeister, der Hüttenmeister und der Kassierer der Alpgenossenschaft Bruchalp, bei der Rosi Sartori und Erwin Moser angestellt sind. 20 Bauern schicken jeden Sommer insgesamt 60 Milchkühe auf die guten Weiden, um den begehrten Alpkäse herstellen zu lassen. Da braucht man verantwortungsbewusstes Personal – und tut auch einiges dafür. Alpmeister Simon Gartmann:

Gartmann: "Wir sind gut erschlossen, 200 Meter neben der Alp ist die Kantonstraße, wir haben Elektrizität auf der Alp, diesen Frühling haben wir investiert in ein größeres Kessi, die letzten Sommer war es so, die ersten mindestens zehn Tage musste der Senn zwei Mal am Tag käsen, im Moment sind wir, meine ich, gut eingerichtet, und dadurch ist es auch etwas einfacher, gute Leute zu finden und zu halten."

Denn gute Leute sind rar. Aussteiger mit Heidi-Ambitionen sind bei den Bauern hier nicht so beliebt. Die Südtiroler hingegen werden geschätzt. Sie gelten als pflichtbewusst, sprechen die gleiche Sprache. Ihnen fühlt man sich nahe.

Gartmann: "Es ist vielleicht auch so, weil das Südtirol ähnlich aussieht, also, die wachsen schon einmal in einem Berggebiet auf, das vielleicht mit Entbehrungen verbunden ist, dieses Leben, und darum versteht man sich auch besser, man ist diese Arbeit gewöhnt."
Ardüser: "Ja. Also wir passen zu den Südtirolern, oder sie zu uns."