Ausgedient: Kriegsveteranen

Wie US-Soldaten nach ihrem Einsatz abgeschoben werden

Hector Barajas vor dem Deported Veterans Support House.
Hector Barajas vor dem Deported Veterans Support House. © Deutschlandradio/Martin Reischke
Von Martin Reischke · 03.07.2016
Um endlich Amerikaner zu werden, wählen viele mexikanische Migranten in den USA den Weg über die Armee. So wollen sie schneller an die begehrte Staatsbürgerschaft gelangen. Doch für manche dieser sogenannten "Green Card Soldiers" wird der amerikanische Traum zum Albtraum.
Hector Barajas sitzt an seinem Lieblingsplatz. Schreibtisch, Computer, Telefon: Fertig ist seine Kommandozentrale.
Das Schiff, das ist das "Deported Veterans Support House" in Tijuana, Mexiko. Die Grenze zu den USA ist nur eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt. Seit drei Jahren ist das Haus eine wichtige Anlaufstelle für US-Veteranen aus aller Welt. Menschen, die glaubten, durch den Dienst an der Waffe zu amerikanischen Staatsbürgern zu werden – aber nach ihrer Zeit im US-Militär aus den USA abgeschoben wurden.
"Ich bin Mexikaner, ich wurde hier geboren und bin stolz auf meine Wurzeln. Aber wenn mich jemand fragt, womit ich mich identifiziere: Mit den USA natürlich, ich sehe mich als merikaner."
Hector Barajas, geboren in Mexiko, aufgewachsen in den USA. Schon als kleiner Junge ist er mit seinen Eltern nach Los Angeles gekommen. Seit seiner Abschiebung vor sieben Jahren lebt er in Tijuana.
Um 10 Uhr soll er am nächsten Tag in die Straße José Clemente Oroszco im Geschäftsviertel von Tijuana kommen. Es geht zwar nur um einen Arzttermin. Aber Hector ist in Feierlaune. Drei Jahre lang hat er für diesen Termin gekämpft.

Chronische Schmerzen an den Fußgelenken

Ende der 90er war er Soldat in der 82. Luftlandedivision der US-Streitkräfte. Nach sechs Jahren beim Militär geht Hector heute am Stock – obwohl er erst 39 Jahre alt ist. Er hat zwar ein Recht auf medizinische Versorgung, vielleicht sogar auf eine Pension – aber in Anspruch nehmen kann er das nicht, seit er nach Mexiko abgeschoben wurde. Hier gibt es keine Krankenhäuser, die Veteranen wie ihn behandeln würden. Mit dem Arzttermin soll sich das ändern.
"Ich habe chronische Schmerzen an den Fußgelenken und den Knien. Ein Fallschirmsprung ist schiefgegangen, danach hatte ich schlimme Kopfschmerzen und Gedächtnislücken. Ich kann mich auch heute nicht mehr an Details erinnern. Aber wenn dir was wehtut und du bist beim Militär, dann sagst du nichts, sonst giltst du als Weichei."

Ein "Bunker" für Veteranen

Dabei hat Hector eigentlich nichts gegen Disziplin und Durchhaltevermögen – im Gegenteil.
"Das ist sehr wichtig, weil du keine Leute haben willst, die dich auf deiner Mission im Stich lassen. Du willst Leute, die alles geben, das macht einen Soldaten ja aus, das verstehe ich auch, aber ich glaube, du musst dich auch um deine Leute kümmern."
Nach diesen Grundsätzen führt Hector auch seine Herberge. Die Veteranen nennen sie nur The Bunker – den Bunker. Dabei sieht das zweistöckige Haus eher aus wie eine amerikanische Devotionalienkammer: US-Fähnchen stehen auf dem Schreibtisch oder hängen als großformatige Flaggen an Tür und Wänden.
Hector Barajas am Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko
Hector Barajas am Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko© Deutschlandradio/Martin Reischke
Unten ein großer, heller Raum mit Schreibtisch, Sofa und Sesseln, oben eine enge Küche, dahinter ein Schlafsaal mit Etagenbetten und Pritschen. Momentan wohnen nur zwei Veteranen hier – doch als Treffpunkt und Infozentrum nutzen ihn noch viele mehr. Und manchmal macht sich Hector auch selbst auf den Weg zu seinen Schützlingen.
Fünf Minuten Fußweg, dann betritt er die kleine, dunkle Wohnung von Andy de León. Der knorrige Alte mit dem faltigen Gesicht war Ende der 60er Jahre als US-Soldat in Deutschland stationiert, seit seiner Abschiebung lebt er in Tijuana. Freunde hatte er keine hier, bis er sich an die Veteranenherberge wandte. Heute bringt Hector ihm nur schnell einen Teller Nudeln vorbei. Dann ist er auch schon wieder weg.
Am nächsten Morgen verlässt Hector um 8.30 den Bunker. Hector ist aufgeregt, aber guter Dinge. Mit Gehstock, dunklem Hemd und der grauen, weiten Hose, die er in die blankgeputzten schwarzen Stiefel gesteckt hat, ähnelt er Charlie Chaplin in "Der große Diktator". Die Arztpraxis liegt im eleganten Geschäfts- und Hotelviertel von Tijuana.
Im Warteraum wirft Hector einen letzten Blick auf die Unterlagen, die von seiner Militärvergangenheit erzählen. Dann verschwindet er im Behandlungszimmer. 20 Minuten dauert die Untersuchung.
Nach dem Wochenende soll Hector beim Arzt anrufen, einen Termin für ein Röntgenbild machen. Rückenprobleme, Knieprobleme – nun bekommt er alles schwarz auf weiß. Es scheint gut auszusehen für ihn. Nur: Am Ende entscheidet eben nicht der mexikanische Arzt, sondern die US-amerikanische Veteranen-Behörde darüber, ob seine Gebrechen als Berufskrankheit anerkannt werden und er am Ende vielleicht doch noch eine Pension bekommt.
Mit dem Bus geht es zurück zum Bunker. Dort beantwortet Hector endlich die Frage: Warum werden die US-Veteranen überhaupt abgeschoben?
"Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich und kann alles sein von Scheckbetrug, über Waffenbesitz, häusliche Gewalt oder Drogendelikte. "

Aufenthaltsstatus, aber keine Staatsbürgerschaft

Denn die Veteranen, die bei Hector landen, sind keine US-Bürger, sondern so genannte Greencard Soldiers. Soldaten also, die zwar einen Aufenthaltsstatus in den USA haben, aber keine Staatsbürgerschaft. Eigentlich soll ihr Militärdienst die Einbürgerung beschleunigen.
Aber bei Gesetzesübertritten werden sie wie alle anderen Migranten behandelt – und werden oft schon wegen kleiner Delikte abgeschoben, Militärdienst hin oder her. Wie viele es sind, weiß niemand genau. Es gibt keine offiziellen Zahlen. Hector schätzt ihre Gesamtzahl weltweit auf einige Tausend. Allein im Bunker hat er Kontakt zu mehr als 200 abgeschobenen Veteranen aus 34 Ländern.
Er selbst wurde aufgrund eines Waffendeliktes aus den USA ausgewiesen, seine zehnjährige Tochter Lily sieht er seither nur per Skype.
"Ich habe mich des illegalen Waffengebrauchs für schuldig bekannt und bin zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden, davon habe ich etwas über zwei Jahre in Kalifornien abgesessen."
Hector hat seinen Militärdienst in den Vereinigten Staaten geleistet – andere Veteranen dagegen waren sogar im Kriegseinsatz, bevor sie auf die schiefe Bahn gerieten und abgeschoben wurden. Mit einem von ihnen will mich Hector heute bekannt machen.
Mit dem Taxi geht es raus aus der Stadt Richtung Süden. Im Hintergrund der blau glitzernde Pazifik. Davor ein Labyrinth aus immer gleichen Reihenhäusern, zweistöckig, weiße Fassaden, Mittelschicht.
In einem der Häuser empfängt mich Mauricio Hernández Mata. Ein junger Mann mit athletischem Körper, kurzen, halbgrauen Haaren und einem skeptisch-melancholischen Blick.
Von der kleinen Wohnküche im Erdgeschoss führt eine Treppe hinauf zum Schlafzimmer und Bad. Hier wohnt die kleine Familie: Mauricio, seine junge mexikanische Frau Azucena und ihre gemeinsame Tochter Emily, die gerade ein Jahr alt geworden ist.

Mauricios Verpflichtung als Mörserschütze

Der beste Freund von Emily ist ein riesiger brauner Hund, der auch zur Familie gehört. Doch der Pitbull-Terrier ist auch eine Erinnerung an Mauricios Zeit in Afghanistan, erzählt er:
"Ich lebe schon lange mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, muss ich nachschauen, ob sich irgendjemand in meinem Haus versteckt haben könnte. Jahrelang habe ich meine Wohnung mit vorgehaltener Waffe durchsucht. Später habe ich die Waffe gegen den Hund eingetauscht. Sie fragen sich vielleicht, warum der Hund so ruhig und freundlich ist? Er ist ein trainierter Kampfhund."
Dann setzt sich Mauricio an seinen Laptop und öffnet eine Dia-Show, die er selbst mit seinen Kameraden aus Afghanistan zusammengeschnitten hat. Zeltdörfer sind dort zu sehen, ausgebrannte LKWs, Mauricio an seiner Waffe, Kameraden beim Monopoly-Spiel, blutjunge Gesichter, einige längst gefallen im Einsatz.
Mauricio Hernández mit seiner Tochter Emily
Mauricio Hernández mit seiner Tochter Emily© Deutschlandradio/Martin Reischke
Mauricio, geboren 1981 in Mexiko, aufgewachsen in San Diego, Kalifornien, USA. Mit 19 Jahren unterschreibt er einen Sechs-Jahres-Vertrag bei den Bodentruppen der US-Streitkräfte. Er wird als Mörserschütze ausgebildet, 2004 mit seiner Einheit nach Afghanistan geschickt.
"Ich war Teil der Vorhut, unser Job war es, die bösen Jungs zu finden, die bad guys. Wir machten eine Sommer-Offensive, 20 Tage lang. Ein paar Mal hatten wir direkten Kontakt mit dem Feind, und ich bekam meinen ersten Befehl, mit meinem Mörser auf die feindlichen Stellungen zu feuern. Also feuerte ich auf sie, ich sah, wie sie sich bewegten, ich feuerte einfach und lud nach und feuerte. // Es war eine Mission nach der anderen, mehr als 160, manchmal ein oder zwei pro Tag, andere bis zu zwei oder drei Wochen am Stück. Es war hart, aber es war genau das, wofür ich unterschrieben hatte."
Nach dreizehn Monaten kommt er zurück in die USA. Unverletzt zwar, aber psychisch schwer angeschlagen. Und auch sein Leben in den USA ist nicht mehr das gleiche: Seine Frau hat sich von ihm getrennt, ist schwanger von einem anderen Mann. Mit den drei gemeinsamen Kindern ist sie weggezogen.
"Ich bin nach Hause gefahren, um sie zu besuchen, und an diesem Wochenende bin ich in einen Laden gegangen, um ein paar Sachen für meine Kinder zu kaufen. Da nähern sich mir zwei Männer, einer von den beiden ist mit einem Golfschläger bewaffnet, der andere mit einem Küchenmesser. Die Männer wollen mein Geld. Also schau ich sie an und sag zu ihnen: Wenn ihr mein Geld haben wollt, müsst ihr mich zuerst töten. Seid ihr dazu bereit?"

Das Ende einer Militärkarriere

Sie greifen ihn an. Aber Mauricio wehrt sich, rastet aus. Am Ende liegt er mit schweren Verletzungen im Koma, eine Woche lang. Den Überfall hat er überlebt, aber seine Militärkarriere ist zu Ende. Er will zurück in den Krieg, doch seine Vorgesetzten halten ihn für ungeeignet. Also kehrt er der Armee den Rücken. "Ehrenhaft entlassen aus medizinischen Gründen", heißt es in seinem Entlassungsdokument.
"Ich war wütend, ich fühlte mich wie weggeworfen, ich wollte gar nichts von niemandem. Damals habe ich mir gesagt: Wenn sie nichts von dir wollen, dann willst du auch nichts von ihnen. Aber das stimmt nicht, ich hatte große Probleme, Probleme, die mich in Schwierigkeiten gebracht haben, und ich habe ein paar wirklich schlechte Entscheidungen getroffen."
Seine psychischen Probleme bleiben unbehandelt. Er gerät auf die schiefe Bahn, wird wegen illegalen Waffenbesitzes und Drogendelikten festgenommen, landet im Gefängnis. 2009 wird er nach Mexiko abgeschoben – weil eine kleine Menge der chemischen Droge Crystal Meth bei ihm gefunden wurde.
Mauricio, Afghanistan-Veteran – abgeschoben aus den USA. Er kann es nicht fassen.
"Als wir nach Afghanistan gekommen sind, haben wir die ganzen Unterlagen bekommen, um sicherzustellen, dass wir als Amerikaner begraben werden, wenn wir fallen würden. Wir haben uns nie Gedanken darüber gemacht, dass wir nach dem Einsatz psychisch vielleicht etwas angeschlagen sein würden, dass wir Probleme haben würden, und dass wir uns deshalb besser gleich um unsere amerikanische Staatsbürgerschaft kümmern sollten. Das hat uns niemand gesagt."
Jetzt braucht Mauricio erst einmal eine Pause. Das Erzählen strengt ihn an, die Erinnerungen haben ihn müde gemacht. Außerdem will er noch lernen – für sein BWL-Studium, dass er online an der University of Phoenix macht. So versucht er, sich ein neues, normales Leben aufzubauen.
"Es gibt immer wieder diese Tage. Heute ist es ganz OK, es ist kein sehr guter Tag, auch kein guter Tag, aber es ist OK. Es gibt manchmal Tage, da will ich mit niemandem zu tun haben, mit niemandem sprechen, weil ich merke, dass das nicht geht. Da will ich nur alleine sein."
Er verabschiedet sich. Mit seiner Familie will er nun eine Runde um den Block drehen.
Zurück im Bunker. Eigentlich wollte sich Hector heute mit den anderen Veteranen zur wöchentlichen Besprechung treffen. Aber jetzt kommt alles anders. Es heißt, Bernie Sanders, der Anwärter für die Präsidentschaftskandidatur der US-Demokraten, sei auf dem Weg zur mexikanischen Grenze. Sanders gilt als Unterstützer der abgeschobenen Veteranen. Hector ist elektrisiert. Mit drei Freunden macht er sich sofort auf den Weg.
Die Fahrt geht Richtung Strand, zum Pazifik, dort, wo ein fünf Meter hoher Metallzaun Tijuana von San Diego und Mexiko von den USA trennt. Friendship Park heißt der Platz, durch den die Grenze verläuft – Park der Freundschaft. Am Grenzzaun angekommen, entwirft Hector schnell ein kurzes Statement für Bernie Sanders.
Er will sich bei Sanders bedanken für seine Unterstützung. Nun wartet er gemeinsam mit ein paar mexikanischen Journalisten und seinen Freunden auf den amerikanischen Präsidentschaftsanwärter. Sie haben Transparente mitgebracht. "Feel the Bern" steht darauf, oder: "I love Bernie".
Dann ist er endlich da. Langsam führen zwei Begleiter Bernie Sanders zum Grenzzaun. Durch die engen Maschen ist er nur an seinem weißen Haarkranz zu erkennen.

Hector hält seine Rede vor Bernie Sanders

Hector hält seine Rede. Und Bernie Sanders bedankt sich bei ihm für seinen Dienst in der US-Armee. Sanders wünscht sich, ihn auf der anderen Seite des Zauns wiederzusehen.
Hector strahlt, ballt die Fäuste zusammen, tänzelt über den Platz. Er ist kaum zu bändigen.
Auf der Rückfahrt ist Hector noch immer total aufgedreht. Wieder und wieder spielen sie die Szene nach. Wie dicht er kam. Bernie Sanders, ein amerikanischer Spitzenpolitiker, direkt zu ihnen, den Abgeschobenen, Ausgestoßenen. Es ist wirklich kaum zu glauben. Und es ist Wahlkampf.
Am nächsten Morgen hat Mauricio mich zu einer Trainingsstunde eingeladen. Wir treffen uns in Sánchez Taboada, einem einfachen Viertel im Südwesten der Stadt. Hier gibt Mauricio drei Jungen Kampfsport-Unterricht in Mixed Martial Arts.
Von der Straße führt eine dunkle Treppe auf die Terrasse im ersten Stock. Am Geländer ist ein Schäferhund angebunden, zerrt an der Leine, kläfft. Auf dem Boden gelbe Pfützen. Es stinkt nach Hundepisse.
Hinter der Terrasse ist ein dunkler, gefließter Lagerraum. Mauricio, in kurzen Trainingshosen und Kapuzenshirt, markiert mit weißem Klebeband ein Kreuz auf den Boden. Hier üben die Jungen die richtigen Schritte zum Boxen.
Der Veteran Mauricio Hernández
Der Veteran Mauricio Hernández© Deutschlandradio/Martin Reischke
Die Arbeit als Fitnesstrainer soll ihm helfen, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Mauricio ist professioneller Kampfsportler, für ihn eine Form der Therapie.
"Es ist nicht einfach, das selbst zu machen. Ich habe das jahrelang probiert, ich nenne das Eigentherapie. Ich trainiere also Mixed Martial Arts, Jiu Jitsu, Boxen. Ich habe ein paar Freunde und Trainingspartner, die das professionell machen, und mit denen kämpfe ich, und wir schlagen uns gegenseitig die Köpfe ein."
Doch das reicht jetzt nicht mehr, sagt Mauricio:
"Die ganzen Interviews, das belastet mich sehr, ich rede über diese ganzen Dinge, über die ich nicht reden will, diese Interviews sind ziemlich hart, das ist psychisch eine ziemliche Zumutung für mich."
Zum Abschluss sollen die Jungs noch Kampftritte mit Fuß und Knie üben. Mauricio, der sich mit dicken Polstern vor den Schlägen schützt, ermuntert sie, hart zuzutreten. Dann ist Schluss. Mauricio räumt auf, stellt die Boxhandschuhe und Armschoner ordentlich an die Wand.
Dann geht es zum Bunker.
Dort angekommen muss Mauricio dringend telefonieren.
So wie Hector hat auch Mauricio einen Antrag in den USA gestellt, um sich in Mexiko medizinisch untersuchen zu lassen. Das ist der erste Schritt für eine Behandlung. Nun drängt er auf einen Arzttermin.
Heute will er nur eine zweite Telefonnummer hinterlassen, damit sich die Dame vom Amt schnell mit ihm in Verbindung setzen kann. Denn seine psychischen Probleme will er so schnell wie möglich behandeln lassen.
"Es ist so, als hätte ich ein zweites 'Ich'. Es ist ja nicht so, dass ich einen schlechten Tag haben will. Es ist eher wie ein anderes 'Ich', und das macht mir wirklich Angst, weil ich denke, dass ich intelligent genug bin, um zu wissen, dass ich Hilfe brauche, bevor ich mich in Schwierigkeiten bringe."

Alpträume - fast jede Nacht

Dass Mauricio zwei Gesichter hat, ist durchaus wörtlich zu nehmen. An seiner Unterlippe ist ein feiner Strich zu erkennen. Wenn er die Haut unter der Unterlippe mit der Zunge etwas hervorschiebt, ist dort ein winziges Tatoo zu erkennen. "Fuck you" ist dort zu lesen.
"Ich will nicht behaupten, dass ich jede Nacht Alpträume habe, aber ich habe sie doch ziemlich oft, viel öfter, als ich zugeben möchte. Ich kann auch nicht behaupten, dass ich gut schlafe, aber ich kann mich immerhin genügend ausruhen, um am nächsten Tag die Dinge zu tun, die ich tun muss, um zu funktionieren."
Mauricio hat der Frau vom Amt alles gesagt. Mitte nächster Woche will sie ihn zurückrufen. Dann verabschieden sie sich.
Es ist schon spät am Abend. Hector sitzt immer noch an seinem Computer.
In anderen Berufen kannst du um 17 Uhr nach Hause gehen, aber wir sitzen hier fest in unserer Situation, immerzu sind wir hier, abgeschoben, immer nur hier."
Dann reißt er sich zusammen. Also fährt er am nächsten Morgen doch wieder zur Grenze, so wie jeden Sonntag. Steigt aus dem Bus, geht Richtung Strand.
Wieder steht Hector am Zaun, dort, wo er noch vor wenigen Tagen mit Bernie Sanders gesprochen hat. Heute ist ein besonderer Tag, weil in den USA der Memorial Day gefeiert wird – zum Gedenken an die im Krieg gefallenen Soldaten. Hector trägt seine dunkle Ausgehuniform mit dem roten Barrett.
Vier Veteranen haben am Zaun Stellung bezogen. Zwei von ihnen legen feierlich eine riesige US-Flagge zusammen, bis nur noch ein exakt gefaltetes Stoffdreieck übrig bleibt. So will es das Protokoll.

Eine lange Liste mit abgeschobenen Veteranen

Hector verliest eine lange Liste von Namen – alles abgeschobene Veteranen, gestorben in Mexiko, weil ihnen die medizinische Versorgung fehlte. Oder aus humanitären Gründen in die USA zurückgekommen, als sie schon auf dem Sterbebett lagen.
So will Hector mit seinen Veteranen nicht enden. Deshalb hat er jetzt noch eine Mitteilung in eigener Sache.
"Am 8. Juli werden wir uns als Veteranengruppe an der Grenze den US-amerikanischen Behörden übergeben und um ein Einreisevisum aus humanitären Gründen bitten, damit wir nicht warten müssen, bis wir sterben, um wieder zurück in die USA zu kommen."
Veteranen aus ganz Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern wollen für den 8. Juli nach Tijuana anreisen. Aber wie soll das gehen, wenn sich die Veteranen den amerikanischen Behörden übergeben wollen? Und: Kann das funktionieren? Eine Einreise in die USA ohne Visum und gültigen Aufenthaltstitel?
"Ich weiß es nicht, aber mehr als "Nein" sagen können sie schließlich nicht. Ich weiß nicht, was passieren wird, vielleicht wird jemand rüberkommen, vielleicht auch nicht. Wir werden in jedem Fall gewinnen, denn die Aktion wird uns viele Türen öffnen, viele Medien werden auf uns schauen, und darum geht es uns.

"Ich will auch den amerikanischen Traum leben"

Auch Mauricio wird am 8. Juli dabei sein, um einen Antrag auf Einreise in die USA aus humanitären Gründen zu stellen. Dort will er sich (schließlich) behandeln lassen. Denn die Bilder aus Afghanistan, sie sollen endlich verschwinden aus seinem Kopf.
Der Journalist und Autor Martin Reischke
Martin Reischke© Privat
"Ich will auch den amerikanischen Traum leben, ich habe dafür gekämpft, und ich finde, ich habe ein Recht darauf. Ich liebe mein Land, und ich habe für mein Land gekämpft. Also wäre es nur gerecht, wenn mein Land auch mich lieben würde und mir die medizinische Hilfe geben würde, die ich brauche. Denn ich will ein normaler Mensch sein. Ich will nur leben, ohne ständig zornig und angespannt zu sein, ohne andere Menschen zu meiden, nicht weil ich mich vor ihnen fürchte, sondern weil ich Angst um ihre Sicherheit habe, wenn ich ihnen zu nahe bin, weil es mir psychisch oft nicht gut geht. Das wäre doch nur gerecht."
Ein normales Leben. Arbeiten. Seine Kinder aus erster Ehe wiedersehen, seine Mutter in San Diego. Dafür will er so schnell wie möglich zurück in die USA. Aber die aktuelle Gesetzeslage sieht das nicht vor.
"Falls ich morgen sterben sollte, dann habe ich als Kriegsveteran Anspruch auf ein Grab und einen Grabstein auf dem Nationalfriedhof Arlington in Virginia. Sie würden mich als US-Bürger begraben, sie würden meiner Mutter und meiner Frau – falls sie in die USA einreisen dürfte – eine amerikanische Flagge überreichen. Ich muss im Exil leben, bis ich sterbe."
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