"Auseinandersetzung zwischen Redaktion und Publikum"

Nele Heise im Gespräch mit Susanne Führer · 29.08.2013
Die User-Kommentare sind das Plus des Online-Journalismus und keine Last, sagt Nele Heise. Es liege am Engagement der Medienanbieter, die Qualität der Diskussion hochzuhalten und mit Pöbeleien verantwortlich umzugehen, so die Hamburger Medienwissenschaftlerin.
Susanne Führer: Früher, als die Menschen noch viel Zeitung lasen, da schrieben diejenigen, die sich über einen Artikel besonders geärgert oder gefreut hatten oder auch alles besser wussten einen Leserbrief. Die Chance, dass der veröffentlicht oder gar beantwortet wurde, die war allerdings gering. Heute gibt es das Internet und die Kommentarfunktion, ein wunderbares neues demokratisches Instrument. Leser kommentierten Artikel, kommentierten andere Leser, führten mit ihnen und auch mit den Autoren eine Diskussion. Das war vor wenigen Jahren. Heute spricht man vom Elend der Nutzerkommentare, manche haben sie bereits abgeschafft, andere täten es gern.

Über Sinn und Unsinn von Online-Kommentaren will ich jetzt mit Nele Heise sprechen, sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg. Guten Tag, Frau Heise!

Nele Heise: Hallo!

Führer: Die häufigste Kritik an Online-Kommentaren lautet ja: Da gibt es nur plumpe Pöbelei. Ist das berechtigt?

Heise: Ich denke, das muss man differenziert sehen je nach Medienangebot. Es liegt vor allen Dingen auch daran, ob die Medienhäuser selbst da regulierend eingreifen, das heißt, welche Steuerungsmechanismen sie da einbauen in die Diskussion, in die Kommentarbereiche. Das heißt, es gibt ja so was wie eine Vormoderation, wo viel Aufwand reingesteckt wird, um die Qualität und das Niveau der Diskussion hochzuhalten. Und je nachdem, wie Medienorganisationen sich entscheiden, das zu tun, kann es natürlich sein, dass bei manchen, in manchen Kommentarbereichen, auf manchen Online-Nachrichtenseiten mehr Pöbeleien auftauchen.

Es gab da mal eine interessante Studie zu "Zeit Online", da zeigte sich, dass allerdings nur elf Prozent der Kommentare – die haben natürlich eine bestimmte Debatte untersucht – von sogenannten Pöblern verfasst wurden, und interessanterweise hat sich da auch rausgestellt, dass diese Pöbel-Kommentare gar nicht so stark integriert werden in die Debatte, das heißt, andere Kommentatoren reagieren darauf gar nicht so sehr.

Führer: Nun sind ja auch diese Pöbeleien nun auch leicht zu erkennen und leicht auch von der Seite zu nehmen, schwieriger wird es ja bei Kommentaren, die von PR-Agenturen geschrieben werden oder von anderen interessierten Organisationen, die da ein Interesse haben. Können Sie eigentlich einschätzen, wie viele Online-Kommentare echt sind und wie viele bestellt und möglicherweise bezahlt?

"Zwei Drittel der Kommentare mehr oder weniger echt""
Heise: Das ist, glaube ich, für uns genau so schwer einzuschätzen wie für die Medienanbieter selber. Also ich habe eben schon die Vormoderation erwähnt. Wir haben mal eine Studie bei der "Tagesschau" gemacht, die sagen, dass zwei Drittel der Kommentare mehr oder weniger als echt, also von ganz gewöhnlichen Nutzern verfasst, angesehen werden. Und ein Drittel der Kommentare, da ist man sich nicht sicher, einerseits eben, weil es Pöbeleien sind, die auch in den rechtlich relevanten Bereich kommen, aber auch, weil es möglicherweise Interessengruppen sind, die dort versuchen, ihre Statements unterzubringen. Aber von uns, von Wissenschaftlerseite ist das natürlich auch schwer zu erkennen von außen und zu bemessen, welche Prozentzahlen dort vorliegen.

Führer: Das heißt, die sind auch sehr schwer zu erkennen?

Heise: Was ich ganz interessant fand: Wir haben mit Forennutzern von einem ARD-Polit-Talk gesprochen, und die sagten halt eben: Ja, klar, da gibt es manche Leute, die irgendwie parteipolitisch offensichtlich einen Hintergrund haben und da PR machen wollen, und wenn wir die erkennen, dann markieren wir die, dann erzählen wir anderen Nutzern: Ja, pass mal auf, der hat jetzt in dem und dem Forum gepostet. Das heißt, für die Leute, die tatsächlich auch häufig die Foren nutzen, sind diese Strategien, die PR-Leute dort anwenden, auch erkennbar und es wird dann auch abgestraft im Sinne von, nein, nein, dich wollen wir jetzt hier nicht mehr haben in der Debatte. Aber tatsächlich: Es kann schwer sein, na klar, weil je höher das Interesse, bestimmte Meinungen in den Diskurs einzubringen, desto trickreicher wird man da auch vorgehen.

Führer: Trotzdem noch mal die Frage: Was bringen diese Online-Kommentare eigentlich? Also auch, wenn es jetzt nicht um platte Pöbelei geht oder um wirkliche Hetze, scheint es ja vielen tatsächlich auch nur um so eine Art Frustabbau zu gehen. Also mal ein Beispiel: Der Kommentar zu einem unserer Interviews im "Radiofeuilleton" auf unserer Facebook-Seite lautet dann eben nur "War denn wirklich niemand anders aufzutreiben als diese unsägliche Frau?" Also wer hat was davon?

Heise: Also man muss vielleicht mal unterscheiden noch mal, Online-Kommentar-Bereich, und zwar einmal die Leute, die dort sich tatsächlich aktiv beteiligen – und das ist tatsächlich, glaube ich, kann man so ungefähr zehn Prozent, wobei ein Prozent vielleicht noch mal super-aktiv ist und sehr regelmäßig schreibt. Und dann hat man eben den Rest der 90 Prozent, die das lesen. Also sogenannte Lurker, die dort einfach nur mitlesen oder passiv beobachten, und die haben tatsächlich sehr unterschiedliche Dinge, die sie da rausziehen aus ihrer Beteiligung oder eben Nicht-Beteiligung. Und viele Leute wollen eben ihre Meinung einbringen, die dort aktiv kommentieren, oder eben auch eine Gegenmeinung zu dem, was dort im Artikel geschrieben steht. Oder einfach ihre eigenen Ansichten und Gedanken und Erfahrungen teilen. Und das ist natürlich auch, um im Dialog mit anderen etwas zu lernen und eigene Themen einzubringen, die ihnen wichtig sind.

Und diejenigen Leute, die das eher lesen, die nehmen das auch wahr, um Meinungen anderer kennenzulernen oder eben auf neue Aspekte eines Themas aufmerksam zu werden oder ihr Wissen zu erweitern. Das heißt, sie haben eben auch einen bestimmten Nutzen. Und wenn das nur ist – für den Kommentar, den Sie eben zitiert haben –, um zu sehen: Okay, manch anderer kann sich vielleicht nicht so artikulieren, wie ich das vielleicht tun würde. Aber ich habe eben eine andere Meinung dazu. Also das heißt, im Prozess der Meinungsbildung sind diese Online-Kommentar-Bereiche durchaus von Wert, und dann kann man auch sagen, möglicherweise von einem demokratischen Wert.

Führer: Sagt Nele Heise vom Hans-Bredow-Institut für Medienforschung. Frau Heise, Sie haben gerade gesagt, diese Online-Kommentare haben eine demokratische Funktion, es würden sich wenige beteiligen, viele würden nur lesen. Wer ist das, wer liest diese Kommentare? Also ich hatte hier so den Eindruck – wir haben mal so eine kleine Spontanumfrage gemacht –, also dass die meisten wirklich inzwischen vollkommen genervt sind, also dass man sich die Frage stellt: Braucht es neue Regeln vielleicht?

""Kommentarbereiche oder Kommentarfunktionen sind ja nichts Neues"
Heise: Ich glaube, das ist eine Debatte, in die wir immer wieder reinkommen. Also Kommentarbereiche oder Kommentarfunktionen sind ja nichts Neues. Das fängt an bei Newsgroups, dann gingen irgendwann die Foren auf und bis zum Blog und Kommentarbereich und so weiter und so fort. Und immer, wenn so ein neues Format eingeführt wird und sich dann auch durchsetzt, gibt es irgendwann die Debatte: Brauchen wir Regeln? Müssen sich neue Normen durchsetzen?

Und gerade bei den Online-Medien, glaube ich, sind wir in einer Konsolidierungsphase. Das heißt, es hat sich mehr oder weniger breit durchgesetzt. Wir haben gleichzeitig steigende Online-Nutzerzahlen. Das heißt, die Anzahl derer, die sich beteiligen könnten, wächst theoretisch an. Was wir allerdings sehen, wenn man sich anguckt, wer sich da aktiv beteiligt: Das sind vorrangig männliche Teilnehmer und so in einem bestimmten Altersschnitt von 20 bis Mitte 40 und auch gehobenere Bildung.

Und das heißt, diejenigen, die dann eher lurken, sind – vermuten wir zumindest – eher Frauen. Und das heißt: Allein schon dort gibt es einen bestimmten Bias, den man berücksichtigen muss, weil das ist natürlich keine repräsentative Gesellschaftsmehrheit.

Führer: Aber noch mal zum Stichpunkt Demokratie: Könnten die Netzkommentatoren im Idealfall also so etwas wie eine Kontrollfunktion der Medien ausüben. Manchmal werden ja auch ein paar sachliche Fehler korrigiert oder so was, also quasi eine fünfte Gewalt darstellen, so wie die Medien ihrerseits die vierte Gewalt? Wäre das der Traum oder war das mal der Traum?

Heise: Ich glaube, das kommt auch wieder auf das Angebot drauf an und wie tatsächlich die Medienhäuser auch damit umgehen. Das heißt dann nicht nur, die Qualität der Diskussion muss ansteigen, damit das überhaupt von einem demokratisch-idealtypischen Wert ist. Sondern auch die Bereitschaft, sich mit dem auseinanderzusetzen, was in den Kommentarbereichen geschieht. Ich glaube, da sehen wir gerade auch wieder so eine Experimentierphase in den Medienhäusern. Viele Medienhäuser setzen jetzt sogenannte Community Manager ein, die sich tatsächlich nur darum kümmern sollen, mit den Kommentatoren zu interagieren. Und ihnen eben auch das Gefühl einer Wertschätzung ihres Engagements – weil tatsächlich ist der Aufwand ja da teilweise doch relativ hoch, Kommentare zu verfassen, man muss sich vorher registrieren, es kann technisch aufwändig sein und so weiter und so fort oder auch zeitaufwendig –, ... aber dort eine Möglichkeit zu schaffen, den Leuten eine Anerkennung zu bieten.

Führer: Also was heißt das dann genau, auseinandersetzen mit den Kommentaren oder ihnen eine Anerkennung zu bieten? Das heißt ja nicht, dass tatsächlich der Autor oder die Autorin des Artikels dann irgendwie antwortet und in eine Diskussion tritt. Sondern dass jemand dann schreibt, nett, dass Sie sich so viel Mühe gegeben haben – oder was?

"Es ist nicht mehr die Idee eines abgeschlossenen Textes"
Heise: Ich glaube, was wir jetzt auch in unseren Studien, die wir im Institut gerade machen, sehen, ist, dass doch viele Kommentatoren sich wünschen würden, wenn es zumindest eine Interaktion mit den Journalisten selbst gibt. Dass sie auf Fragen eingehen oder dass sie neue Punkte einstreuen, neue Informationen liefern. Das heißt, dass es nicht mehr die Idee ist eines abgeschlossenen Textes oder eines abgeschlossenen journalistischen Produktes, sondern dass das, was dort stattfindet, sogenannte Anschlusskommunikation, dass es dort auch eine Auseinandersetzung zwischen Redaktion und Publikum geben kann und geben sollte.

Führer: Und dann kommt der Journalist wahrscheinlich nicht mehr dazu, seine eigenen Artikel zu schreiben.

Heise: Richtig, das ist ein Riesenproblem. Also ich glaube, deswegen sagte ich auch gerade, Experimentierphase, also wie kann man der Flut an Kommentaren Herr werden. Und gleichzeitig auch das als ein großes Plus von Online-Journalismus zu begreifen, dass man eben nicht mehr unantastbar im Elfenbeinturm sitzt, sondern sich mit dem, was die Leute dort schreiben – manches ist ja auch, das wissen wir ja auch von Journalisten, mit denen wir sprechen, auch sehr hilfreich und informativ oder einfach nur lustig oder unterhaltsam oder es bietet neue Informationen, weil man natürlich als Journalist auch nicht Expertise über alle Gebiete hat –, aber dass man dort stärker das auch als ein Plus sieht und nicht als eine Last. Aber dafür müssen natürlich in den Häusern auch Strukturen geschaffen werden.

Führer: Das sagt Nele Heise, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema