Aus den Feuilletons

Zu viele Putin-Versteher

Menschen mit Ukraine- und EU-Flaggen auf dem Maidan in Kiew
Andruchowytsch: In der Ukraine wird für die EU beziehungsweise für deren Verheißungen gekämpft und ganz unsymbolisch gestorben. © dpa / picture alliance / Zurab Dzhavakhadze
Von Burkhard Müller-Ullrich · 18.11.2014
Der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch beklagt in der "FAZ" das mangelnde Verständnis des Westens für seine Heimat. Es bleibe für ihn eine schmerzhafte Frage, warum Europa der Aggressor näher stünde als die Opfer der Aggression.
"Es gibt kaum Berührungspunkte zwischen uns, der Ukraine und Europa",
sagte Juri Andruchowytsch kürzlich in Wien bei der Eröffnung der inzwischen schon wieder zu Ende gegangenen dortigen Buchmesse. Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG druckt die Rede des ukrainischen Schriftstellers ab.
"Aus meinen unzähligen Gesprächen im Westen, in Europa, geht hervor, dass man uns nicht nur nicht versteht, sondern, schlimmer noch: dass man gar nicht versucht, uns zu verstehen. Stattdessen treffe ich viel zu häufig Leute, die Putin verstehen. Es bleibt eine schmerzhafte Frage, warum dem friedlichen, politisch korrekten Europa der Aggressor näher und daher verständlicher erscheint als das Opfer seiner Aggression."
Andruchowytsch hat im Fernsehen verfolgt, wie spanische Bauern die Fahne der Europäischen Union verbrannten, weil sie wegen der Sanktionen gegen Russland Absatzeinbußen haben – die gleiche Fahne, für die, beziehungsweise für deren Verheißungen in der Ukraine gekämpft und ganz unsymbolisch gestorben wird.
"Ich habe einen bösen Verdacht", fährt der Autor fort:
"Die EU fürchtet die Ukraine. Die EU hat es auch ohne die Ukraine nicht leicht, und jetzt auch noch dieser failed state mit seinem schlechten Karma. Früher kannte man ihn ausschließlich als Vaterland von Tschernobyl und Nutten. Jetzt kommen Tod, Krieg, Flüchtlinge, Leiden, Folter und die abgeschossene malaysische Boeing dazu (egal, dass es eben gerade keine Ukrainer waren, die sie abgeschossen haben), auch andere unangenehme Signale wie Nationalismus, Faschismus und Rechtsradikale. So ein Land hält man besser in sicherer Entfernung, sagen sich die Europäer."
Rigaer Konferenz kritisiert deutschen Tunnelblick
Apropos Entfernung: Furcht ist das eine, Kenntnislosigkeit das andere. In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG berichtet Klaus Brill von einer Konferenz der lettischen Regierung und der Konrad-Adenauer-Stiftung in Riga, auf der die seltsam verschobene Geographie vieler Deutscher zur Sprache kam.
"Innerlich liegt Russland manchen Deutschen offenbar viel näher als das, was zwischen beiden Ländern sich befindet. Für Polen, Letten, Esten oder Litauer ist das schmerzlich. Es gebe eine 'unselige Tradition' der Deutschen, im europäischen Osten 'nur mit einem Partner zu sprechen: Russland', heißt es in einer Erklärung polnischer Intellektueller, darunter Andrzej Wajda und Wladyslaw Bartoszewski."
Speziell in Bezug auf die Ukraine kommt hinzu, dass das historische Schuldempfinden vieler Deutscher gegenüber Russland viel stärker ist als dasjenige gegenüber der Ukraine – zu Unrecht, wie der Autor der SÜDDEUTSCHEN auf der Konferenz in Riga zu hören bekam:
"Im Zweiten Weltkrieg hätten die Deutschen ja anteilig viel mehr Ukrainer und Weißrussen umgebracht als Russen."
Und weiter heißt es in dem Artikel:
"Psychohistorisch freilich wirken heute auf der Waagschale der aktuellen Abwägungen um die russische Aggression gegen die Ukraine selbst die toten Ukrainer des Zweiten Weltkriegs noch zugunsten Putins – was natürlich aus ukrainischer oder polnischer Sicht extrem widersinnig ist."
Londoner Konferenz lobt entspannte Deutsche
Die aus der Vergangenheit zu ziehenden Folgerungen für die Gegenwart waren auch in London Thema einer Deutschlandkonferenz, die mit prominenter Besetzung aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik im British Museum stattfand. Dort läuft ja auch gerade eine vielgerühmte Deutschland-Ausstellung.
Die Historikerin Mary Fulbrook, so berichtet Alexander Menden in der SÜDDEUTSCHEN, "erklärt Berlin mit seinen zahlreichen Mahnmalen zur 'Welthauptstadt obsessiver Erinnerung'. Dabei sei es zum Standard geworden sich mit den Opfern zu identifizieren."
Ihr Kollege Timothy Garton Ash bescheinigt den Deutschen hingegen eine "recht entspannte" Haltung zu ihrer Nationalität. Er sieht die Ursache – so Matthias Thibaut im TAGESSPIEGEL – "darin, dass es seit 1990 erstmals klare Grenzen gibt, einen klaren rechtlichen, politischen, kulturellen und ökonomischen Rahmen".
Da ist sicher was dran: Freiheit und Wohlstand und sichere Grenzen wirken entspannend. Kein Wunder, dass die Ukrainer so unentspannt wirken.
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