Aus den Feuilletons

"Wir waren Schlafwandler"

Zwischen Traum und Wirklichkeit: Schlafwandler auf einem Dach
Schlafwandler © Zwischen Traum und Wirklichkeit: Schlafwandler auf einem Dach
Von Tobias Wenzel  · 12.11.2016
"Wir hielten die Freiheit und die Rechte, die wir geerbt haben, für einen unumkehrbaren Entwicklungsprozess", schreibt - unter dem Eindruck der US-Wahl - Nils Minkmar im Wochenmagazin "Der Spiegel". Und der Schriftsteller T. C. Boyle fragt in der SZ": "Wer wird das reparieren?"
Das war keine komische Feuilletonwoche, liebe Hörer. Dabei fing sie doch geistreich und vielversprechend an. Und das mit viel Deutsch ganz ohne Deutschtümelei:
"Er […] brauche 'Kalbsdeutsch und Erbsenfresserdeutsch so dringend wie das Hammelfleischdeutsch, das Leoprintdeutsch der Krawallfernsehfamilien, das patzergesprenkelte Dünkeldeutsch, das dampfende Kartoffelsuppendeutsch'",
zitierte Mara Delius in der WELT die Worte von Marcel Beyer aus dessen Dankesrede zur Verleihung des Büchnerpreises.
Und Volker Breidecker führte in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG noch weitere Deutsch-Varianten an, die der Dresdner Schriftsteller wissbegierig aufnimmt:
das "Ferkeldeutsch", "Wölfinnen- und Zicken- und Zeckendeutsch", selbst das "Carl-Schmitt-trifft-Florian-Silbereisen-Deutsch der Leitkulturpamphlete".
Vermutlich hat Beyer forschend und erschaudernd zugleich in Anne Wills Talkshow auch den Worten der vollverschleierten Nora Illi gelauscht.
Weniger forschend, eher forsch waren einige Reaktionen in den Feuilletons.
"Da saß jemand im öffentlich-rechtlichen Programm der ARD und relativierte die Verbrechen der Mördermiliz 'IS', besser 'Daesh', als sei gar nichts dabei",
schrieb Michael Hanfeld in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.
"Stattdessen sprach die 'Frauenbeauftragte' des 'Islamischen Zentralrats Schweiz' von der vermeintlichen Unterdrückung der Muslime, besonders muslimischer Frauen, in unserer Gesellschaft."
Die Moderatorin habe zu harmlos gefragt, anstatt die Extremistin als solche zu entlarven. Das hätten zum Glück die anderen Gäste der Sendung übernommen:
"Sie sprachen Klartext und bewahrten die Moderatorin bei ihrer Gratwanderung vor einem bösen Absturz. Gerade noch."
Mit dem Sieg bei der Präsidentenwahl stürzte Donald Trump mehr als die Hälfte der US-Bevölkerung und besonders die Intellektuellen in eine tiefe Sinnkrise. Abgesehen vom Singer-Songwriter Leonard Cohen, der, als hätte er es geplant, noch rechtzeitig vor dem Sieg Trumps in Los Angeles starb.
"Tut mir leid, ich weiß nicht, was ich schreiben soll",
entschuldigte sich der Schriftsteller Nicholson Baker bei den Lesern der SZ.
"Ein reicher, grinsender, höhnischer Hooligan hat sich zum Sieg geblufft […]".
Schock und Ratlosigkeit auch bei seinem Kollegen T. C. Boyle:
"Ich habe Richard Nixon und George W. Bush überstanden, aber das?", schrieb er.
"Unser System ist kaputt, und wir sind als Volk fast so zerrissen wie während des Bürgerkriegs. Wer wird das reparieren? Ich nicht. Ich bin nicht kompromissbereit genug. Was soll ich also sagen? Ich sage gute Nacht."
Dass die US-Bevölkerung aber nun mal nicht nur aus Intellektuellen besteht, daran erinnerte Jürgen Kaube in seinem Artikel für die FAZ.
"Man denkt bei Amerika an New York und an das Silicon Valley, mehr an Princeton als an Trenton, lässt sich die Ungleichheit in Amerika gern von Thomas Piketty erklären, drückt David Graeber und Occupy die Daumen; aber kommt man nicht auf die Idee, dass die meisten Wähler keine Studenten sind und, anders als Studenten, von der Globalisierung gar nicht profitieren? […] Wie gebildet ist das eigentlich?"
Ursula Scheer warnte, ebenfalls in der FAZ, davor, den Sieg Donald Trumps schön- oder kleinzureden. Sie erinnerte daran, als was König Ludwig XVI. den Sturm auf die Bastille 1789 in seinem Tagebuch bezeichnete: als "rien", als 'nichts'.
"Da hatte einer den Schuss nicht gehört, und wie die Sache ausging, wissen wir",
fuhr Scheer fort.
"Es hat etwas zu bedeuten, wenn Ägyptens Präsident al Sisi, Putin, Orbán und Chinas Präsident Xi Jinping es kaum abwarten können, Trump zu gratulieren, wenn Marine Le Pen auf Twitter frohlockt, Geert Wilders jubelt und Nigel Farage feiert. Es geht hier nicht um nichts. 2016 hat gezeigt: Es geht allmählich um alles."
"Das Ende der Welt (wie wir sie kennen)"
ist auf dem neuen SPIEGEL-Titelblatt zu lesen. Darüber ist ganz klein die Erde abgebildet und ganz groß ein Komet mit den Gesichtszügen von Donald Trump, der auf unseren Planeten zurast.
"Wir waren Schlafwandler. Wir hielten die Freiheit und die Rechte, die wir geerbt haben, für einen unumkehrbaren Entwicklungsprozess",
so formuliert es Nils Minkmar im Innern des Magazins und knüpft damit daran an, was Christian Schwägerl schon zu Wochenbeginn in der FAZ schrieb:
"Könnte man einen Videoclip, der Donald Trump dabei zeigt, wie er über den Hintern von Hillary Clinton lästert oder wie er erklärt, er werde die Wahl nur bei einem Sieg anerkennen, einem Erdbewohner des Jahres 2012 vorführen, würde dieser das mit Sicherheit als Science Fiction einstufen."
Das "Zeitintervall, das man in der Vergangenheit zurückgehen" müsse, "bis sich die Gegenwart wie ein Science Fiction" anfühle, gebe man mit t(sf) an. Dieses Intervall betrage wohl nur noch vier Jahre, schrieb Schwägerl vor der Präsidentenwahl. Nach dem Wahlergebnis sind es jetzt vielleicht nur noch zwei. t(sf) sei auch ein Symbol dafür,
"wie sich vor unseren Augen Selbstverständlichkeiten"
auflösten, die mehrere Generationen bestanden hätten. Selbstverständlichkeiten wie Demokratie und offene Grenzen seien plötzlich nicht mehr garantiert. Die "Selbstverständlichkeits-Lüge" platze nun.
"Vielleicht repolitisiert sich sogar die Jugend",
machte Schwägerl zum Schluss zwar ein wenig Hoffnung. Die wurde dann allerdings wieder gehörig erschüttert durch Yassin Musharbash, der in der ZEIT aus einem Schulbuch des IS zitierte:
"Ali: Hast du Lust, heute Nachmittag mit mir zur Steinigung eines ehebrechenden Paares im Stadtzentrum zu gehen?" – "Was wird eigentlich aus diesen Kindern?", fragte der Autor der ZEIT.
Und Sie, liebe Hörer, fragen sich nun sicher: Muss dieser Pressebeschauer uns denn so runterziehen? Kann der denn nicht mal mit etwas Aufmunterndem enden? In Ordnung. Die FAZ schrieb:
"Nach dem Weltuntergang geht einfach die Sonne wieder auf."
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