Aus den Feuilletons

Wie ein Systemtheoretiker auf die Sexualität schaut

Von Arno Orzessek · 01.12.2017
Dass es Bielefeld in Wirklichkeit gar nicht gibt ist natürlich Quatsch. Schließlich hat Niklas Luhmann da 32 Jahre lang gelehrt. Andererseits ist die Welt da draußen ja doch nur ein Konstrukt in unseren Köpfen, meint "Die Welt".
"Advent, Advent, die Lade klemmt", titelt die Tageszeitung DIE WELT.
Weil der Systemtheoretiker Niklas Luhmann in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden wäre, verfasst Marc Reichwein unter dem Foto eines Zettelkastens seinerseits einen "Zettelkasten mit 24 Türchen"…

Sexualität war bei Luhmann ein "Intimsystem"

Und das heißt, mit 24 Kurztexten. Der achte lautet:
"Richtig wichtig in (… Luhmanns) Gelehrtenleben wurde die Ablage Z wie Zettelkasten. Das amtstubenhässliche Katastermöbel, bestehend aus sechs hölzernen Karteikästen mit je vier Auszügen, sehen Sie oben. Die Bielefeld-Verschwörung, nach der es die Stadt Bielefeld nicht gibt, würde jetzt wahrscheinlich auch behaupten, dass es den Schuber mit der Nummer acht nicht gibt. Niklas Luhmann, der 32 Jahre lang in Bielefeld lehrte, hatte Sympathien für solchen radikalen Konstruktivismus – eine Forschungsrichtung, die besagt, dass die ganze Welt da draußen nur ein Konstrukt in unserem Kopf ist."
Wer Luhmann in Erinnerung hat, der weiß: Seine Intelligenz und seine radikale Nüchternheit mündeten in trockenem Humor… Was auch Reichweins zwanzigster Zettel bezeugt.
"Die europäische Integration hat Luhmann stets kritischer gesehen als sein Gegenspieler Habermas. Nach den Vor- und Nachteilen der europäischen Einigung gefragt, antwortet Luhmann schon 1992 ambivalent: ‚Mehr Vorteile und mehr Nachteile.‘"
Passenderweise findet sich im Zettelkasten der WELT auch einer, der zum Thema Sex überleitet, das uns gleich befassen wird.
Vorspielhaft hier Reichweins siebzehnter Zettel:
"Französische Denker waren in deutschen Feuilletonkreisen zu jeder Zeit hipper als Sozialtechnologie aus Bielefeld. Während Foucault über ‚Sexualität und Wahrheit"‘ schrieb, deklinierte Luhmann ‚Liebe als Passion‘. Sexualität war für ihn? Sie ahnen es: ein Intimsystem."
Das zur Theorie. Jetzt zum Sex. Genauer: zum Nutzen und Nachteil der Penetration aus lesbischer Sicht, einem Thema, dem sich die TAGESZEITUNG widmet.

Vergnügte Plaudereien über Penetration

Unter der Überschrift "Ich mag es, wenn sie rasiert sind" heißt es dort:
"Ich hatte (…) einige sehr attraktive Liebhaber und der Sex mit denen war wirklich gut. Aber die Penetration war’s nie: also generell für mich. Ich glaube, die ist auch für viele andere Frauen, auch für Heteras, vernachlässigbar. (…) Könnte oder müsste ich aus dem Sex etwas für immer herausschneiden, wäre es die Penetration",
bekennt die Autorin Simone Meier im Gespräch mit der TAZ.
Was die zweite Gesprächspartnerin, Patricia Hempel, ebenfalls Autorin, zur Widerrede animiert.
"Penetration geil zu finden, ist absolut nichts Heteronormatives. Ich kenne auch Lesben, die stehen drauf. Wenn du als lesbische Liebhaberin beides kannst, bis du auf der sicheren Seite. Ich bin gern eine gute Liebhaberin."
So vergnügt plaudern Meier und Hempel über eine komplette Seite…
Und was der TAZ zur Gleichstellung vielleicht noch fehlt, wäre ein Gespräch, in dem sich heteronormative Männer ähnlich beschwingt über heteronormative Geilheit auslassen.
Indessen: So viel Gender-Gerechtigkeit trauen wir der TAZ nicht zu.

Alle Wege führen zur Hochkultur

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG unterhält sich mit dem Literaturwissenschaftler Sascha Feuchert über den sexuell sehr expliziten Roman "Josefine Mutzenbacher", den die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften jetzt freigegeben hat.
Aber wie sah es im Erscheinungsjahr aus, 1906?
"(Der Roman, so Feuchert ) sorgte natürlich zunächst für einen Skandal, gleichzeitig war das Interesse gerade unter den Wiener Intellektuellen groß. (…Er) traf ja auch mitten in die Diskussionen um Freuds Arbeiten zu Sexualtheorie, die verkürzt und bisweilen parodistisch in den ‚Mutzenbacher‘ aufgenommen werden. Literaturwissenschaftler, die jetzt im Spruchverfahren der Gutachter gehört wurden, argumentieren, dass unter anderem auch Kafka den Roman kannte und (…) im ‚Prozess‘ auf ihn reagierte."
Da sieht man’s wieder, liebe Hörer: Am Ende führen alle Wege zur Hochkultur.
Aber nun. Fürs Wochenende empfehlen wir Ihnen mit der TAZ dreierlei:
"Lustig sein! Verliebt sein! Kompliziert sein!"
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