Aus den Feuilletons

Wenn Maschinen Gedanken lesen

Eine Frau auf der Liege eines Computertomographen im Krankenhaus
Noch muss man für einen Computertomographen ins Krankenhaus, doch bald gibt es tragbare Scanner, glaubt Musiker Peter Gabriel. © imago/blickwinkel
Von Tobias Wenzel · 06.05.2017
Bald können wir mit tragbaren Hirnscannern praktisch jedem beim Denken zuschauen, mutmaßt Musiker Peter Gabriel in der "NZZ". Bald? Unser Kritiker liest Ihre Gedanken jetzt schon mit!
"Das Wesen unserer Identität ist in unseren Gedanken- und Erinnerungen enthalten, die kurz davor stehen, wie Konservenbüchsen geöffnet und über einer schlafenden Welt ausgegossen zu werden", schrieb in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG Peter Gabriel, weltberühmter Musiker, außerdem Videokünstler und nun offensichtlich auch noch Hellseher. "Wir betreten das Zeitalter des sichtbaren (und hörbaren) Denkens." Gabriel glaubt, Hirnscanner, so genannte funktionelle Magnetresonanztomographen, sind schon bald so leistungsfähig und günstig, dass praktisch jeder jeden mit einem tragbaren Scanner beim Denken beobachten kann. Dann sind die Gedanken frei – zugänglich. Also unfrei.
Jetzt denken Sie, liebe Hörer, das würde Ihnen so gar nicht gefallen, wenn da einer bei Ihnen mitläse. Aber wäre es nicht reizvoll, mal in den Windungen des Partners oder des nervigen Nachbarn vorbeizuschauen? Oder aber im Hirn von Donald Trump?
Gottfried Knapp wusste wohl auch ohne Hirnscanner, was A. R. Penck vor seinem geistigen Auge sah. In der SÜDDEUTSCHE ZEITUNG schrieb Knapp über den nun im Alter von 77 Jahren gestorbenen Künstler, der eigentlich Ralf Winkler hieß:
"Der Maler hat die Formen, die er auf dem fast immer neutral weiß bleibenden Malgrund beschwören will, genau im Kopf: Es sind Menschen- oder Tierfiguren, deren Anatomie und Gestik auf wenige meist gerade Striche reduziert ist, also Strichwesen von ausdrucksstarker Schlichtheit, die an Höhlenmalereien erinnern, an Kinderzeichnungen, aber auch an die Schmierereien auf Wänden, mit denen sich Erwachsene etwas von der Seele laden."
Und Claus Löser bemerkte in der TAZ mit Blick auf das Leben des Malers in der DDR bis zu dessen Ausbürgerung 1980:
"Hätte es ein paar Menschen mehr mit der Courage des Künstlers und Menschen Ralf Winkler gegeben, die DDR wäre weniger grau gewesen oder früher zusammengebrochen."

Begriff der Leitkultur nicht totzukriegen

Was war nur los (oder war da überhaupt etwas los?) im Gehirn von Thomas de Maizière, als er seine zehn Thesen zur deutschen Leitkultur formulierte.
"Unter den Wörtern scheint die Leitkultur das zu sein, was der Zombie im Horrorkino ist: Wann immer man denkt, der Begriff sei erledigt und begraben, steigt er wieder auf und geistert durch die Diskurse; keiner kann sich aber daran erinnern, dass er jemals lebendig war",
schreibt Claudius Seidel in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG und spricht da offensichtlich Nina Pauer von der ZEIT aus der Seele. Pauer zog die Waffe des Humors, machte eine Umfrage unter ihren Redaktionskollegen zur deutschen Leitkultur und klebte die Antworten einfach so zusammen, dass der Artikel wie journalistische Prosa aussah, aber wie experimentelle Lyrik klang:
"Wir sind Wurst. Wir sind nicht Grammatik. Hier lernt man Stoßlüften. […] Soße. Schorle. Schunkeln."
"Warum Spinoza und Albert Camus in der Türkei unter Terrorverdacht stehen" – das zu erläutern verspricht der kurdisch-türkische Schriftsteller Burhan Sönmez im Untertitel zu seinem Artikel "Der Club der toten Philosophen" für den neuen SPIEGEL. Sönmez berichtet, dass zwei türkische Journalisten am 7. April dieses Jahres im Südosten der Türkei vor Gericht gestanden hätten. Der Staatsanwalt habe die Anklage vorgetragen, deren Grundlage Notizhefte der beiden Journalisten gewesen seien. Hefte mit Aufzeichnungen zu Büchern von Spinoza und Albert Camus.
"'Wer sind Spinoza und Albert Camus?', dachte sich wohl der Staatsanwalt und mutmaßte, sie wären Mitglieder einer illegalen prokurdischen Organisation. Ohne sich die Mühe zu machen, diese Namen auf Wikipedia zu überprüfen, fügte er sie der Mitgliederliste der Organisation hinzu",
fing Sönmez die Gedanken retrospektiv ein, also ohne Hirnscanner, durch den Sultan Erdoğan sicher liebend gerne alle seine Untertanen zöge.
"Dass der Staatsanwalt seine Bildungslücke demnächst mithilfe von Wikipedia schließen wird, ist unmöglich. Denn der Zugriff auf dieses kostenlose Informationsportal […] wurde jetzt in der Türkei gesperrt."

Roboter, die Häuser bauen

Eine Gedankenlesemaschine wäre wohl Marine Le Pens politischer Tod. Jedenfalls könnte sie dann nicht mehr verbergen, dass sie noch immer rechtsextremen und rassistischen Geistes ist. Aber was, wenn tatsächlich viele Linke, wie angekündigt, bei der französischen Präsidentschaftswahl am Sonntag einen leeren Wahlzettel abgeben, weil ihnen Emmanuel Macron nicht links genug ist und das für sie schwerer wiegt, als mit ihrem Verhalten vielleicht den Sieg von Marine Le Pen zu ermöglichen?
"Bei aller Sympathie für kapriziöseste Antipragmatismen: blind-reaktionärer geht es nicht mehr", konnte man in der WELT dazu lesen.
"Bedeutete linke Intellektualität nicht mal vor allem die Fähigkeit, seine Gedanken offen und beweglich zu halten?"
Apropos offene, freie Gedanken. Die gibt es, glaubt man Peter Gabriel, sowieso nicht mehr lange. Wegen der Hirnscanner. Roboter würden ja jetzt schon Häuser bauen, allerdings nach von Menschen erstellten dreidimensionalen Plänen. In Zukunft würde zum Beispiel eine Architektin einfach angezapft:
"Bald schon werden wir in der Lage sein, die Architektin direkt anzuschliessen und, mit ein bisschen Feinabstimmung, ihre jüngsten Gedanken ausgedruckt und unmittelbar zu einem Gebäude zusammengesetzt zu sehen",
schrieb Gabriel in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.
Jetzt denken Sie, liebe Hörer: 'Schon bald Gedanken auslesen! So ein Quatsch! Wenn das mal funktioniert, dann sind wir und Peter Gabriel längst tot!' Denken Sie gerade. Sagt mir der Hirnscanner, der in Ihrem Radio eingebaut ist.
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