Aus den Feuilletons

"Was meinen die mit 'Volk'?"

"Reisegenuss"? Flüchtlinge werden in Clausnitz von einem Mob bedrängt (18.02.2016)
"Reisegenuss"? Flüchtlinge werden in Clausnitz am 18. Februar 2016 von einem Mob bedrängt © Screenshot Youtube
Von Hans von Trotha · 22.02.2016
Clausnitz und die Folgen: Den Rechtsextremen sei es gelungen, den Slogan "Wir sind das Volk" zu okkupieren, meint Michael Handfeld in der SZ. Dietmar Dath konstatiert in der FAZ: Wo sich der Staat abwendet, haben die "Stämme" das Sagen.
Die Berlinale ist vorbei. Da werden neuerdings auch Serien gezeigt. Vielleicht sind Serien ja die angemessene Form, unsere Zeit abzubilden. Die aktuelle Medienseite der SÜDDEUTSCHEN handelt fast ausschließlich von Serien. Da wird die fünfte Staffel von "Homeland" bei Sat 1 angekündigt, und Anne Philippi stellt die Serie "Love" vor, die Judd Apatow für Netflix entwickelt hat. In Wahrheit interessiert sich Philippi aber viel weniger für die Serie als für deren Macher. Und für dessen Hemden.
"Judd Apatow war als Kind nicht reich und hat bis heute kein Interesse daran, so auszusehen. Sein kreisrunder Bart könnte der eines Erdkundelehrers sein, auch Hemden gehören nicht zu den großen Themen in Apatows Leben. Über das Karohemd schafft Apatow es selten hinaus. Aber wenn man Boxoffice-Hits wie 'Brautalarm', Jungfrau (40),männlich, sucht' oder ''Immer Ärger mit 40' landete, Seth Rogan, James Franco und Adam Sandler entdeckte und gefördert hat, interessiert die Menschen in Hollywood kein Hemdengeschmack mehr."
So weit muss man es also bringen, um Karohemden tragen zu dürfen. – Wie froh ich gerade bin, dass wir hier im Radio sind. Anne Philippi befindet über den sanktionierten Karohemdenträger:
"Der Mann ist ein Geschenk. Eine männliche, jüdische Ein-Mann-Komödie."
Whoaow. Und seine Serie?
"Love ist ab und an etwas zu langsam, zu peinlich, zu unerträglich hoffnungslos, und dann doch wieder sehr komisch und versöhnlich."

Es wird wieder "gebelfert" - doch was heißt das nur?

Klingt wie das wirkliche Leben. Im Gegensatz zur dritten Serie auf der SÜDDEUTSCHE-Medien-Seite. Die läuft auf Sky und heißt "Versailles". Stefan Fischer beginnt seine Kritik mit dem Satz:
"'Ich bin der Staat', belfert Ludwig XIV. einen Minister an".
Ob das Sky-Publikum mit dem schönen deutschen Wort "belfern" etwas anfangen kann? Laut Duden bedeutet es nichts Gutes, schon gar nicht, wenn es von einem König kommt, nämlich: "misstönend bellen". Ursula Scheer bringt die Serie in der FAZ auf den Punkt:
"Der Sender Sky steckt Charaktere von heute in Kostüme von damals und jagt sie durch Episoden voller Sex, Intrigen und Verbrechen."
Stefan Fischer belfert in der SÜDDEUTSCHEN:
"Es geht in Versailles nicht um nationale Selbstvergewisserung, sondern um gute Unterhaltung."
Immerhin erkennt er einen Grundkonflikt in der zehnteiligen Serie, nämlich die Frage:
"Wer repräsentiert den französischen Staat?"

Staat gegen Stämme?

Für den französischen Staat stellt sich die wenigstens nur im Rahmen einer historischen Sky-Serie, für den deutschen dagegen in einer Serie zutiefst beschämender Ereignisse: Charaktere von heute in Kostümen von heute im Deutschland von heute.
"Was passiert, wenn nur die Polizei für den Staat einsteht", fragt Michael Hanfeld in der FAZ angesichts der Bilder aus Clausnitz, die sein Blattkollege Dietmar Dath als Kampf "Staat gegen Stämme" beschreibt:
"Tribalismus wird Alltag, wo Politik sich abwendet."
Hanfeld spricht von einem "Versagen, das damit zu tun hat, dass es den Rechts-extremen gelungen ist, den Slogan 'Wir sind das Volk' für sich zu okkupieren."
Er erkennt "ein Versäumnis und einen Rückzug der Demokratie, den die Polizei nicht auffangen kann. Sie steht allein auf weiter Flur zwischen den Fronten derjenigen, deren 'moralische Überzeugungen' nicht einmal reichen davor zurückzuschrecken, Kinder anzugreifen."
Dietmar Dath ruft die Szene in Erinnerung:
"Eine Horde tobt um einen Bus, in dem ein paar Menschen angekommen sind, die der Mob hier nicht haben will. Staatsvollzugsorgane schaffen die sichtlich verängstigten Neuankömmlinge aus dem Fahrzeug. Die Handgreiflichkeit ruft Unartikuliertes hervor, vielleicht Zustimmung, vielleicht bloßes Blöken Betrunkener. Aber auch eine Parole wird gebrüllt: 'Wir sind das Volk!' Was meinen die mit 'Volk'?"

Soundtrack wider Willen

Die taz hat Kai Niemann im Interview. Der hat vor sieben Jahren den Song "Wir sind das Volk" geschrieben. Der erzählt:
"Mein 'Wir sind das Volk'-Originalvideo dümpelte dort jahrelang vor sich hin, bis es in den letzten anderthalb Jahren 750.000 Mal geklickt wurde. Ich bekam sogar mehrere Anfragen von der AfD, ob ich auf deren Wahlkampfveranstaltungen spielen würde. Um ein Statement dagegen zu setzen, bin ich sogar bei zwei Wahlkampfveranstaltungen von Die Linke aufgetreten."
Und er hat den Namen seiner Band geändert, weil er nicht mehr mit "Wir sind das Volk" identifiziert werden will, dem Soundtrack wider Willen zu einer Serie in Deutschland, vor deren nächster Folge einem jetzt schon graut.
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