Aus den Feuilletons

Vor dem Küssen bitte fragen

Ein Paar küsst sich, der Mann ist von hinten zu sehen, von der Frau nur die Hand, auf der geschrieben steht: "I said yes".
Können Küsse echte Freude auslösen? Das fragt die erste Frauenzeitschrift der Welt, "The Ladies Mercury" © imago/Photocase
Von Hans von Trotha · 26.02.2018
Über das Küssen berichten die "NZZ" und die "taz". Ende des 17. Jahrhunderts fragten Männer in "The Ladies Mercury", der weltweit ersten Frauenzeitschrift, bereits ob man eine Frau, die einem gefalle, einfach küssen und herzen könne. Der klare Ratschlag damals: "Hands off!".
"Macht küssen wirklich Freude?", fragt die NZZ. Wer reinliest in Claudia Mädlers Artikel, bekommt eine ganze Phalanx weiterer Fragen zu lesen, darunter: "Aus wie vielen Teilen besteht eine Seele? Wie können wir wissen, ob wir wachen oder unser Leben bloss träumen? Gehört es sich für Frauen, gelehrt zu sein?" Fragen von Frauen aus einer Zeitschrift, an die Leser Fragen richten konnten, was zunehmend auch Leserinnen taten, woraus am 27. Februar 1693 "The Ladies Mercury" wurde, der Welt erste Frauenzeitschrift.

"Damals herrschte noch die Vernunft"

Quasi komplementär dazu fragt die taz: "Schon mal `ne Frau geküsst?" und erzählt vom ersten "lesbischen Fernsehmagazin auf diesem Planeten": "Läsbisch-TV", dessen 27 Folgen derzeit im Berliner Schwulen Museum zu sehen sind, gab es von 1991 bis 1993 und damit deutlich länger als "The Ladies Mercury", der ganz vier Wochen überlebte. Dennoch meint Claudia Mädler, lohnt es sich, daran zu erinnern. Sie zitiert:
"Die Dame fragt sich, ob Küsse echte Freude auslösen können? Sie mache bitte eigene Erfahrungen. Vor allem aber muss man", findet Mädler, "das kuriose Magazin heute feiern, weil es der Zeit um Jahrhunderte voraus war. Der rationalistische Vernunftgedanke der Frühaufklärung, die steigende Präsenz der Frauen in der englischen Öffentlichkeit sowie eine verhältnismässig laxe Pressezensur haben im "Mercury" glücklich zusammengefunden, und dieser hat für kurze Zeit einen Ort gebildet, an dem in erstaunlicher Offenheit über Geschlechterfragen geschrieben wurde. Gerade heute, da der Umgang zwischen den Geschlechtern wieder so viele Fragen aufwirft" lohne "sich ein Blick in (die) weise Schrift. Ob man Frauen, die man möge, auch einfach einmal küssen oder herzen könne, wollte etwa 1692 ein Gentleman wissen. "Hands off" gab (der Herausgeber) zurück. Prüderie?", fragt Mädler. "Die dominierte später. Hier herrschte ganz einfach noch die Vernunft."

In Shenzhen ist jeden Tag Zukunft

Beide Medienprojekte hätten, hätte es das damals schon gegeben, ein Motto der Stadt Shenzhen erfüllt, das da lautet: "Wage es, Welt-Erster zu sein." Gina Thomas berichtet für die FAZ aus der chinesischen Stadt:
"Überall sonst auf der Welt beginnt die Zukunft morgen oder danach. In Shenzhen ist die Zukunft heute. Als die Stadt ihr dreißigjähriges Bestehen feierte, rühmte sie sich denn auch, bereits erreicht zu haben, wozu die westliche Gesellschaft drei Jahrhunderte gebraucht habe."

"Die Stadt ist eine der bedeutendsten Erfindungen der Zivilisation"

Die Stadt, damit zitiert Gerhard Matzig in der Süddeutschen Zeitung den Soziologen Lewis Mumford, "ist neben der Schrift die bedeutendste Erfindung der Zivilisation". "Die Debatte um Dieseldunst und Fahrverbote", so Matzig, verkenne "die Stadt als eine Ressource, die allen gehört. Schon jetzt", meint er, "machen Wohnungsbaupolitik und Handel aus der Stadt einen Exklusions- Ort für jene, die sich das leisten können. Die Verkehrspolitik" dürfe "nicht zum weiteren Motor der Gentrifizierung werden. Die Stadt gehört der Öffentlichkeit. Der Zugang gilt uneingeschränkt. Für reine Luft und Unversehrtheit", meint Matzig, "muss zahlen, wer das Desaster verantwortet: die Industrie."

Mit Kultur gegen die Mafia in Palermo

Dann können wir auch wieder unbeschwert Kultur im Stadtraum genießen, wie derzeit in Palermo, von wo die Welt berichtet: "Seit 30 Jahren kämpft Leoluca Orlando in seiner Stadt gegen Gewalt und Terror. Jetzt veranstaltet sie die Kunstbiennale 'Manifesta'." Im Interview sagt Orlando:
"Viele Städte haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert: Moskau, Prag , Berlin. Aber diese Städte sind freier und offener geworden, weil die politischen Strukturen sich gewandelt haben. Wir haben unsere Stadt mithilfe der Kultur aus den Zwängen der Mafia befreit und sie so zu einem lebenswerten Ort gemacht." Die "Manifesta" reagiere "auf die jahrhundertealte Tradition der Vielfalt in (der) Stadt: auf die unterschiedlichen Völkergruppen, die verschiedenen Baustile, Religionen, auch auf die botanische Vielfalt und nicht zuletzt auf die Menschen, die jetzt zu uns kommen."
Christiane Hoffmans fragt für die Welt nach, ob er damit die Flüchtlinge meine. Orlandos Antwort: "Ich nenne die Menschen, die hierhin kommen nicht Flüchtlinge. Sie sind Menschen, die ein Recht auf ein sicheres Leben haben. Ich mache keinen Unterschied zwischen jemandem, der in Palermo geboren wurde, und einem Menschen, der jetzt hier lebt."
So werden die Städte wieder lebenswert: schlechte Luft raus, gute Kunst rein, die Menschen nehmen, wie sie sind – und mehr auf der Straße küssen. Aber vorher fragen.
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