Aus den Feuilletons

Von Tomaten und ihren ganz unterschiedlichen Zuständen

Geschälte Tomaten in einer Dose - und ein bisschen Ketchup
Geschälte Tomaten in einer Dose - und ein bisschen Ketchup © imago stock&people
Von Ulrike Timm · 19.08.2016
Ein Kritiker ist beleidigt: Er sieht sich gefährdet durch die Tomaten-Bewertung. Aber diese Tomaten können auch ganz hilfreich sein, wenn die Feuilletons liest. Dort sind die Tomaten versteckt - große und kleine.
"Als Filmkritiker steht man derzeit vor dem existentiellen Problem, künftig vielleicht durch eine Tomate ersetzt zu werden", schreibt ein trauriger David Steinitz in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Punktewertung statt Rezension, – das digitale "Tomatometer" preist Filme an oder wirft mit faulen Tomaten nach ihnen. "Die Sehnsucht der Zuschauer, die Qualität eines Films ohne großes Kritikerblala in eine einfache Zahl übersetzt zu bekommen, bevor sie ins Kino gehen oder sich bei Netflix einloggen, ist sehr groß", schreibt Steinitz, und weiter: "dabei befördern sie vor allem jenen Mainstream, den ihre Betreiber gerne verkaufen möchten".

Der Kritiker - durch die Tomate gefährdet

Das ist nicht wirklich überraschend. Und doch klingt es bei allem Ungemach ein wenig hilflos-beleidigt, wenn sich der Kritiker dem Fluch der faulen Tomaten angestrengt strampelnd so entgegen stellt:

"Bei einer Waschmaschine mit fünf Amazon-Sternen kann man davon ausgehen, dass sie für jeden Käufer gleich gut weiß wäscht. Ein Film mit zehn Punkten…..ist aber nicht für jeden das perfekte Filmkunstwerk. Sondern einfach nur ein Film, der den Unterhaltungskriterien einer ganz bestimmten Gruppe von Zuschauern genügt und bei anderen nur ein Augenrollen bewirkt."
Vielleicht entkommen wir jeglicher Tomatenwertung durch eine Prise Eskapismus? Die WELT frönt der Sehnsucht nach Flucht aus der schnöden Realität schon eine ganze Weile in einer kleinen Serie, Ameisen gucken, in die Sauna gehen, ein Kinderbuch lesen und Computerspielen als Mittel zum Zweck waren schon dran – heute preist Tilman Krause Pariser Parks als Seelenoase. "Wenn einen vor allem die Hässlichkeit der modernen Welt stresst, muss man sich in schöne Räume begeben". Stimmt.

Gott und die Sterne - ein ganz neues Verhältnis

Also gleich noch ein Stück weiter weg und ab in den Himmel. Überraschenderweise – die Pressebeschauerin jedenfalls wusste es nicht – betreibt der Vatikan eine eigene Sternwarte, " mit richtigen Astronomen". Die haben jetzt ein Buch geschrieben, das, wenig überraschend, Glaube und Wissenschaft miteinander versöhnen will. Lucas Wiegelmann macht die "Selbstbeweihräucherung", die er aus dem Tonfall heraushört, ziemlich mürbe, aber was es "Neues gibt zum Weltende, den Aliens und dem Stern von Bethlehem", das interessiert ihn dann doch. Immerhin:

"Man lernt, dass die Kirche auf Außerirdische relativ entspannt reagieren würde". Wie und warum, erfahren sie in einer Rezension der WELT, Überschrift: Lieber Himmel, Gesamtwertung: so ungefähr viereinhalb faule Tomaten.

Feuilletonist statt Posterboy? - Welcher Weg ist der bessere

So viele hat die BRAVO eigentlich auch immer mindestens abgekriegt, von Eltern und Erziehern, in ihrer nun 60jährigen Geschichte. Grund genug für verschiedene Autoren der SÜDDEUTSCHEN, ins Dunkel ihrer Pubertätsjahre hinabzusteigen. Willi Winkler freut sich über Winnetou bzw. Pierre Brice, der in 16 Folgen als Großposter geliefert wurde. Und Andrian Kreye erzählt, wie seine besorgten Eltern ihn als 14jährigen um eine Karriere als jugendlicher Bravo-Foto-Lovestory-Boy brachten – "Halb nackte Mädchen! Fummeln! Und alles für ein satt dreistelliges Honorar!" - aber der Scout wurde von den Erziehungsberechtigten am Telefon abgewürgt. Mist. Bloß zur Zeitung gegangen. Feuilletonredakteur geworden. Der faulen Tomatenwertung ausgesetzt.
"Nimmt man die Manierismen in Kauf, wird man mit den Figuren belohnt" – das ist die am elegantesten versteckte Faule-Tomaten-Wertung heute, sie steht in der TAZ und gilt dem neuesten Roman von Martin Mosebach, den Kritiker Tim Caspar Boehme in einem Satz so zusammenfasst: "Manager mit massivem Mitwissermakel macht Mist."
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