Aus den Feuilletons

Übermalen, abhängen, ausblenden

Besucher lesen die Kommentare auf den Zettelchen, die an der Stelle befestigt sind, an der das Gemälde "Hylas und die Nymphen" (1896) von John William Waterhouse in der Manchester Art Gallery ausgestellt war.
Umstrittene Kunstaktion: In Manchester wurde das Gemälde "Hylas und die Nymphen" abgehängt. © Britta Schultejans/dpa
Von Tobias Wenzel · 03.02.2018
Die Frage, ob es Zensur ist oder nicht, bestimmte die Feuilletons der Woche: Vom zu übermalenden Gomringer-Gedicht in Berlin über das abgehängte Waterhouse-Bild in Manchester bis zur Forderung, Dieter Wedels TV-Filme nicht mehr zu zeigen.
"In der guten alten Postmoderne lautete das Motto bekanntlich: anything goes. […] Seit einiger Zeit muss man wieder aufpassen, was man so sagt und tut", schreiben Jan Küveler und Frédéric Schwilden in der WELT AM SONNTAG und füllen, wohl auch als augenzwinkernde Reaktion auf die Debatten dieser Feuilletonwoche, eine Seite mit dem "Inventar der Ungehörigkeiten": "Essen für interessanter halten als Sex". "Finden, dass James Bond ein Mann sein muss". "Filme mit Kevin Spacey gucken". "Gedichte über Bäume schreiben".
Eugen Gomringers spanischsprachiges, schönes wie unschuldiges "avenidas"-Gedicht an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf wird übermalt, nachdem Studierende behaupteten, das Kunstwerk "erinnere an sexuelle Belästigung" von Frauen.
"Die Putztruppe von Hellersdorf" hat Thomas Assheuer seinen Artikel für die ZEIT genannt: "Wer sich über die Aktion empört, der erkennt in der Übermalung etwas Symptomatisches, eine akute Bedrohung für das verwundbarste, was es in der Gesellschaft gibt: ihre Sprache", schrieb er und erwähnte Donald Trump und den Aufstieg der Rechten: "Unter dem Regime von Bullshit und Fake-News, von Niedertracht und Lüge, erscheint dieses Gedicht plötzlich wie die Apologie der Wahrheit; nicht als Instrument von Macht und Massenbetrug, sondern als ohnmächtiges Zeichen für ein anderes Sprechen, für eine Rede ohne Drohung, Erpressung und Gewalt. Viel Spaß beim Übermalen", rief Assheuer bitter-böse in Richtung der Berliner Fachhochschule.

Heine und Schiller - alles weg?

Er erwähnte auch, wie das neue Gedicht für die Fassade nach Meinung des Studierendenausschusses auszusehen beziehungsweise nicht auszusehen habe und welche Gedichte den Kriterien zufolge gar nicht mehr gedruckt werden dürften: Heines Verse "Die schönste Jungfrau sitzet/ Dort oben wunderbar" verstoße gegen das durch die Studierenden formulierte Verbot der Kategorisierung einer Person aufgrund ihres Aussehens. Schillers "Alle Menschen werden Brüder" kategorisiere Personen aufgrund ihres Geschlechts, sei demnach sexistisch. Also wisch und weg damit? Vielleicht mit Hilfe der "Putztruppe von Hellersdorf"?
Weg mit den Fernsehfilmen von Dieter Wedel, dem unter anderem Vergewaltigung vorgeworfen wird, forderte der Regisseur Simon Verhoeven. "Wer dieses Werk wegschließen will, der will dieses Erinnerungsvolumen auslöschen, irrig in der Annahme, mit dem Wegsperren des Werkes könne Wedels Verhalten ungeschehen gemacht werden", schrieb Joachim Huber im TAGESSPIEGEL. "Sobald [die Kunst] in der Welt ist, steht sie für sich und wird unabhängig von ihren Schöpfern", positionierte sich Ulrich Tukur klar im neuen SPIEGEL.

Die Femme fatal ist nicht mehr zeitgemäß

Und doch ist Kevin Spacey aus Filmen herausgeschnitten worden. Die National Gallery in Washington sagte die geplante Ausstellung von Chuck Close ab, weil Frauen behauptet hatten, er habe sie sexuell belästigt. Die Kuratorin der Manchester Art Gallery ließ das Gemälde "Hylas und die Nymphen" des Malers John William Waterhouse aus dem Jahr 1896 abhängen. Begründung, laut SÜDDEUTSCHER ZEITUNG: Es sei nicht mehr zeitgemäß, Bilder zu präsentieren, in denen "männliche Künstler weibliche Körper als passiv-dekorativ oder als Femme fatale zeigten".
"Muss die Kunst für die Künstler büßen?", formulierte Hanno Rauterberg in der ZEIT die zentrale Frage dieser Feuilletonwoche. "Die neuen Formen der Kunstbuße, die wachsende Bereitschaft, mit dem Künstler auch sein Werk zu verdammen, sind auf beunruhigende Weise erstaunlich." Will man im Ernst die Bilder Caravaggios abhängen, weil der Künstler ein Mörder, oder die Schriften von Karl May verbieten, weil der "ein notorischer Betrüger und Dieb" war?

Nur Jekyll ohne Hyde

Man wünsche sich den Künstler "als dunkles Genie und zugleich lieben Zeitgenossen, als einen Dr. Jekyll ohne Mister Hyde", schrieb Rauterberg. "Und dieses Verlangen, alles Unkontrollierbare abzuspalten, erinnert doch stark an das leitende Lust- und Lebensprinzip der Gegenwart: an Cola ohne Zucker und Koffein, Bier ohne Alkohol, den Rausch ohne Rausch. An Schnitzel vom garantiert glücklich getöteten Schwein. […] Und so muss das Schadstoffhaltige der Künstlerexistenz herausgefiltert werden. Es gilt das Prinzip Verbraucherschutz."
Aber geht es wirklich um die angeblich zu schützenden Personen, wenn ein Kunstwerk abgehängt, übermalt oder radikal zensiert wird? Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew bestritt das in der FRANKFURTER ALLEGEMEINEN ZEITUNG. Er bezeichnete die Tatsache, dass in Russland die britische Filmkomödie "Stalins Tod" nicht gezeigt werden dürfe, als "Markstein in der Entwicklung der russischen Zensur".

Die Sitten sind streng im russischen Kindergarten

Russland habe sich in einen "Kindergarten mit strengem Vollzug" verwandelt: "Der wichtigste Satz in unserem Kindergarten lautet: 'Das darfst du nicht!' Dieses 'Das darfst du nicht', so sagen unsere Erzieher, sei keine Zensur, sondern die Sorge um unsere Moral. Aber jede Zensur, mit Ausnahme der Zensur im Krieg, täuscht die Sorge um Moral und Unschuld des Volkes nur vor. Im Namen dieser großen Ziele werden Bücher verbrannt und Filme und Theaterinszenierungen verboten. Doch glauben Sie nicht, dass man sich in unserem Kindergarten wirklich um die Kinder sorgt. Sowohl der Direktor als auch seine Erzieher sorgen sich um sich selbst, während sie den Kindern Angst machen."
Wenn Sie, liebe Hörer, schon selbst Angst haben und gar nicht mehr wissen, was sie überhaupt noch tun und sagen dürfen in diesen hysterischen Zeiten, dann mag ein Zitat aus der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG helfen. Zu 50 Jahre 1968 gibt es ein Sonderfeuilleton. Und darin, als "Schlusswort" bezeichnet, ein Zitat von Joseph Beuys, das gleichzeitig ein Kunstwerk aus eben diesem Jahr 1968 ist. Und diese Worte sind garantiert politisch korrekt und in der Summe sogar neutral: "Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee."
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