Aus den Feuilletons

Kritiker ohne Gnade

Der Literaturkritiker Fritz J. Raddatz wurde 83 Jahre alt
Der Literaturkritiker Fritz J. Raddatz wurde 83 Jahre alt © imago stock&people
Tobias Wenzel · 26.02.2015
Ein "Dandy", der "Verdammungsurteile" aussprechen konnte: Mit einer Offenheit, wie man sie selten in Nachrufen lesen kann, gedenkt das Feuilleton dem verstorbenen Verleger und Literaturkritiker Fritz J. Raddatz.
"Fritz J. Raddatz ist mit offenem Visier und offenem Herzen durch die Welt gegangen", schreibt Volker Weidermann in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG in seinem Nachruf auf den Verleger und Literaturkritiker. Mit einer erstaunlichen Offenheit, wie man sie selten in Nachrufen findet, schreiben nun auch die Feuilletonisten über ihren berühmten Kollegen, der sich im Alter von 83 Jahren in der Schweiz das Leben genommen hat. Ein "Dandy" sei Raddatz gewesen, schreibt Gerrit Bartels im TAGESSPIEGEL.
"Ein 'Gauche Caviar', der zwar bei den 68ern mitmarschierte, aber eben perfekt angezogen und auf dem Bürgersteig gehend, nicht etwa auf der Straße", urteilt Martin Reichert in der TAZ. Willi Winkler erinnert in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG an die Zeit von Fritz J. Raddatz als Cheflektor und stellvertretender Verlagsleiter bei Rowohlt, der faktisch aber Chef gewesen sei: "Raddatz lancierte den schwulen James Baldwin, druckte gegen den erbitterten Widerstand von Berthold Beitz den 'Stellvertreter' Rolf Hochhuths, fuhr im Porsche dreckspritzend in den Bauernhof ein, in dem der Dorfschullehrer Walter Kempowski an seinem Bautzen-Buch arbeitete und hatte offenbar noch Zeit, seine Autoren nach St. Pauli in den Puff auszuführen und sich selber in Paris, London und New York mit mindestens tausend Liebhabern zu amüsieren."
Einige Feuilletonisten erinnern an den anachronistischen Lapsus, der ihm einst den Job als Feuilletonchef der "Zeit" kostete. "Der Bahnhof in Frankfurt, als Goethe noch lebte […]", schrieb Raddatz damals. "Über keinen Fehler hat die boshafte Feuilletonwelt wohl ausgiebiger gelacht als über diesen", schreibt Volker Weidermann in der FAZ.
"Sein Gehirn war ein Flipperautomat"
"Ein Ich, das nie genug kriegen konnte", hat Arno Widmann seinen Nachruf für die FRANKFURTER RUNDSCHAU genannt und verweist damit auf die Eitelkeit von Raddatz. Keine Gnade habe der Kritiker außerdem bei seinen "Verdammungsurteilen", zum Beispiel Durs Gründbein betreffend, gezeigt, so Widmann: "Sie waren von einer ganz und gar nicht grandseigneuralen Brutalität." Die Brutalität eines Schnelldenkers: "Sein Gehirn war ein Flipperautomat, in dem viele Kugeln unterwegs waren und dauernd krachte und flackerte es."
Fritz J. Raddatz hat laut Informationen von Arno Widmann beim Nachlassverwalter zwei fertige Buchmanuskripte hinterlegt. "Er hat es getan", schreibt Widmann in Anspielung auf den "selbstbestimmten Tod" des Feuilletonisten. "Aber es gibt eine Coda."
Retuschiert, Kopf transplantiert: Photoshop wird 25
"[…] die Ohren etwas anlegen, der Mund soll ein bisschen mehr lächeln, die Wimpern hier kürzen, dafür in den Lücken auffüllen, die Augen müssen strahlender 'kommen'." Daniel Bauer, Geschäftsführer einer Bildbearbeitungsfirma, spricht im Interview mit Bernd Graff von der SZ über Kundenwünsche. Der Anlass: Die Bildbearbeitungssoftware Photoshop wird 25. "Gibt es noch unretuschierte Bilder in den Medien?", fragt die SZ. "Nein. Wird es auch nie mehr geben", antwortet Bauer. Alles ist möglich mit Photoshop. Und vieles wird gemacht. Gerade bei Fotos von unbekannten Models: "Hier wird der Kopf ausgetauscht, dort der rechte Arm genommen, dafür das linke Bein […]"
Alles nur virtuell, versteht sich. Na ja. Der Turiner Neurowissenschaftler Sergio Canavero will das mit dem Austauschen, also der Transplantation, menschlicher Köpfe auch ganz real machen, wie Tilman Spreckelsen in der FAZ berichtet. Spätestens 2017 würden Canavero zufolge die "drängendsten damit verbundenen medizinischen Fragen gelöst sein". Spreckelsen muss an "Die vertauschten Köpfe" denken, eine Erzählung von Thomas Mann. Da werden zwei enthauptete Freunde wieder lebendig. Sita, die mit einem der beiden Freunde verheiratet, aber in den anderen verliebt ist, setzt die Köpfe vor lauter Hektik auf den jeweils falschen Rumpf. In den Worten von Tilman Spreckelsen: "Der kluge Kopf büßt seinen schwachen Intellektuellenleib ein und sitzt nun auf dem Körper des Kraftprotzes. Das wirft die aparte Frage auf, mit wem Sita nun eigentlich verheiratet ist […]"
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