Aus den Feuilletons

Krachts Donnerschlag und Wolfes Tod

Der Schweizer Autor Christian Kracht
Der Schweizer Autor Christian Kracht © picture alliance / David Taylor
Von Tobias Wenzel · 16.05.2018
Mit einem erschütternden Missbrauchsbericht eröffnete der Schriftsteller Christian Kracht seine Poetikvorlesung in Frankfurt - und löste damit ein gewaltiges Echo in den Feuilletons aus. Außerdem Thema in "FAZ" und "Taz": Der Tod des Journalisten-Autors Tom Wolfe.
"Erschütternder Bericht" (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG), "Das Geständnis" (DIE WELT), "Donnerschlag" (FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG) – wann hat schon mal eine Poetikvorlesung ein derartiges Echo in den Feuilletons ausgelöst?
Christian Kracht schilderte in der ersten seiner drei Vorlesungen an der Goethe-Universität Frankfurt, wie er, als einer von ungefähr 30 Jungen, in seiner Zeit als Internatsschüler in Kanada missbraucht wurde.

Bewegter Vortragender, betroffenes Publikum

Keith Gleed habe den damals 12-Jährigen aufgefordert, sich komplett ausziehen und nackt auf einem Sofa zu drapieren:
"Ich hörte, wie er hinter mir die Hose öffnete und seinen Gürtel durch die Schlaufe jener Hose zog. Und ich spürte, wie er mir dann sieben oder acht Schläge mit dem ledernen Gürtel auf Rücken und Hinterteil klatschen ließ. Ich sollte noch eine ganze Weile so gestriemt und schluchzend verharren und mich nicht umdrehen, so die Anweisung von Pastor Kleith Gleed. Ich hörte ihn leise stöhnen, und ich muss heute annehmen, dass er sich hinter mir stehend, sein Schlagwerk und den schmächtigen, nackten Knaben vor sich gebeugt betrachtend, selbst befriedigt hatte."
Jan Küveler zitiert das in der WELT, beschreibt die Betroffenheit des Publikums und die Bewegtheit des Vortragenden. Küvelers Fazit: "Der Anfang der Frankfurter Poetikvorlesungen markiert nicht weniger als eine Neugeburt des Schriftstellers Christian Kracht." Kracht habe in Interviews kaum etwas von sich selbst preisgegeben, habe kaschiert und gespielt. Und nun das.
"Das Trauma des Missbrauchs zieht sich durch Krachts gesamtes Werk", schreibt Felix Stephan in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, wobei er sich damit der Deutung des Schriftstellers anschließt. "Kracht wurde als Dompteur aufgefasst, der das Publikum am hermeneutischen Zirkel durch die Manege führt", schreibt Stephan. "In Frankfurt stellte sich jetzt heraus: Ein Spiel ist es nie gewesen. Der Christian Kracht, der dort am Pult stand, hat noch nie einen ironischen Satz geschrieben. Es ging immer um alles, um den Menschen, den Humanismus. Jeder Roman, jede Erzählung war, so sieht es nach dieser großen Rede aus, einer einzigen Frage gewidmet: Der Frage, wie eine Kultur, die so viel Schönes hervorgebracht hat, gleichzeitig so grausam sein kann."

Vom Rebell zum altersbitteren Reaktionär

"Seine für den Tag geschriebenen Texte wird man noch lange lesen – seine Romane eher nicht", prophezeit Arno Frank in der TAZ nicht über Christian Kracht, sondern den am Montag gestorbenen US-amerikanischen Schriftstellerkollegen Tom Wolfe, dessen Markenzeichen weiße Anzüge waren. Zum Schluss sei er nur noch ein "altersbitterer Reaktionär" gewesen, schreibt Arno Frank. Sein wahres Können habe er im "New Journalism" gezeigt. Der sollte lebendiger, näher am Menschen und sprachlich experimentierfreudiger sein. Allerdings fanden das seine Vorgesetzten bei der "Washington Post" anfangs gar nicht gut.
US-Schriftsteller Tom Wolfe am 10. Dezember 2013 in Barcelona
US-Schriftsteller Tom Wolfe (1930 - 2018) auf einem Archivbild aus dem Jahr 2013© picture alliance / dpa / Marta Perez
Frank zitiert Wolfe so: "Immer wenn ich über Adern zu schreiben versuchte, die auf der Stirn des kubanischen Revolutionsführers aufpoppten, wurde mir das abgeschlagen. Alles, was sie wollten, war: Verteidigungsminister Raúl Castro sagte gestern, dass..."
Unter den amerikanischen Journalisten habe Tom Wolfe der beste Schriftsteller sein wollen und unter den Schriftstellern der beste Journalist, behauptet Claudius Seidl in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.
Diesen Wettkampf hätten Tom Wolfe und Norman Mailer ganz direkt ausgetragen: "‚Es wirkt ein bisschen dumm, wenn ein Mann immer weiße Anzüge trägt, vor allem in New York‘, so fing Mailer den Streit an, der Literaturgeschichte geworden ist. Wolfe konterte: ‚Der Rudelführer ist immer der, den die anderen in den Arsch beißen wollen.‘ Worauf Mailer, dessen Markenzeichen sein Machismo war, richtig böse wurde: ‚Wenngleich es stimmt, dass die anderen Hunde den Anführer immer in den Hintern beißen wollen, heißt das noch lange nicht, dass einer der Anführer ist, bloß weil er einen blutigen Hintern hat.‘"
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