Aus den Feuilletons

Kein "Brennpunkt" für das Attentat von Münster

Ein Notarzt hält bei einem ökumenischen Gottesdienst im Dom in Münster eine Kerze zum Gedenken an die Opfer.
Lichter brennen im Gedenken an die Toten der Amokfahrt von Münster. © dpa-Bildfunk / Ina Fassbender
von Klaus Pokatzky · 08.04.2018
Die Amokfahrt in Münster beschäftigt die Feuilletons: Warum gab es keine Sondersendung angesichts der Gewalttat mit mehreren Toten? Und in der "Welt" sinniert die in Teheran geborene Journalistin Violet Kiani darüber, warum es schwierig ist, zwei Kulturen gleichzeitig in sich zu tragen.
"Münster blieb am Abend eine große Nachrichtenlage und für viele Gesprächsstoff", steht in der Tageszeitung TAZ – nach der Amokfahrt in der westfälischen Stadt, wo am Samstag ein Mann zwei Menschen getötet und sich dann selbst umgebracht hat. "Die ARD hatte zunächst einen 'Brennpunkt' angesetzt. Der Programmdirektor des Ersten, Volker Herres, verbreitete entsprechende Programmhinweise", schreibt Daniel Bouhs. "Nur: Ein 'Brennpunkt' ging nicht über den Sender. Herres hatte seine Tweets bereits wenige Minuten nachdem er sie abgesetzt hatte wieder gelöscht – ohne das mit einem Korrekturhinweis zu erklären."
Die Tat hatte ja, wie es in den Medien dann stereotyp heißt, keinen terroristischen, keinen islamistischen Hintergrund. Und "nur" zwei Tote und das Leid ihrer Hinterbliebenen lohnen offenbar noch keine Sondersendung. Vielleicht könnte der Programmdirektor des Ersten auch mal twittern, auf welchen Grundlagen er sein Programm gestaltet. "Generation U 30 schaut immer weniger fern", teilt uns der Berliner TAGESSPIEGEL passend mit. "So kommen die 14- bis 29-Jährigen nur noch auf täglich 94 Fernsehminuten, während die über 60-Jährigen 248 Minuten vor dem Fernseher verbringen." Da erholen wir uns jetzt besser mal bei den ganz Jungen.

Das neutralisierte Geschöpf

"Das Kind!" steht in einem anderen TAGESSPIEGEL-Artikel – mit Ausrufungszeichen! "Woher bezieht die Mehrheitsgesellschaft volljähriger Erwachsener ihr Recht, minderjährige Wachsende so mir nichts, dir nichts zu neutralisieren?", fragt Caroline Fetscher. "Kaum dem Kleinkindstatus entwachsen, wird aus dem Kind entweder 'das Mädchen', ein erneut neutralisiertes Geschöpf, während 'der Junge' bereits phallisch und vergnügt ein Geschlecht aufweisen und sich seiner selbst vergewissernd weiterem Gedeihen entgegensehen darf."
Das war dann wohl nichts mit Erholung bei unseren ganz Kleinen. "An meinen ersten Tag im Kindergarten erinnere ich mich noch genau", lesen wir in der Tageszeitung DIE WELT. "Ich verstand nichts von dem, was die alle sagten, und wenn ich angesprochen wurde, antwortete ich mit dem einzigen deutschen Wort, das ich kannte: nein", erinnert sich Violet Kiani, die Anfang der achtziger Jahre als Vierjährige mit ihrer Familie aus dem Iran nach Deutschland kam. "Trotz dieser anfänglichen Anti-Haltung fand ich schnell Freunde, die Anna, Jens und Silke hießen, und wurde mit jedem weiteren Tag zu der Deutschen, die ich heute bin." Das klingt jetzt nach einer schönen Integrationsgeschichte – "aber die Idee, zwei grundverschiedene Kulturen gleichwertig in sich tragen zu können, ist eine Utopie", meint Violet Kiani, die später sieben Jahre in London gelebt hat.

Die Deutschen und ihr geiziger Sprachduktus

"Migranten werden von allen und sich selbst als Briten bezeichnet", gibt sie ihrem deutschen Heimatland eine kleine Lektion in angemessener Wortwahl. "Wie anders ist unser Sprachduktus, wie geizig mit der Betitelung ‚Deutscher‘. Es muss immer eine Abschwächung wie ‚türkisch-deutsch‘ geben oder ‚Deutscher mit iranischer Abstammung‘ oder, am lästigsten, ‚Deutscher mit Migrationshintergrund‘". Das wäre mal ein schönes Thema für einen ARD-"Brennpunkt".
"Vielleicht hilft die Seele uns, das Leben zu ertragen", bekommen wir noch einen Tipp fürs Leben in diesen Zeiten – in einem Interview der WELT. "Die Seele ist immateriell, fliegt irgendwo herum", sagt der französische Elektronik-Musiker Jean-Benoît Dunckel. "Musik vertont das Leben, und mir ist bisher nichts Besseres begegnet, um das Leben zu verstehen", erzählt Jean-Benoît Dunckel in seinem Interview, das er in Paris von einem "alten, stationären Telefon" aus gegeben hat: "Technologien wie das Smartphone machen uns zwar smarter, aber auch vergesslicher und orientierungsloser."
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