Aus den Feuilletons

"Ich bleibe beunruhigt"

William Boyd
William Boyd: "Wir sind stärker in einem vereinigten Europa." © picture alliance / dpa / Foto: EPA/ZIPI
Von Arno Orzessek · 21.06.2016
Die Feuilletons der Tageszeitungen bieten einen Tag vor der Abstimmung prominente Stimmen gegen den Brexit auf. Der Schriftsteller William Boyd wirbt zum Beispiel in der "Berliner Zeitung" für ein vereintes Europa. Ausgerechnet die "taz" hält dagegen.
"Das wäre ein Desaster", titelt die BERLINER ZEITUNG ...
Und Sie ahnen es, liebe Hörer: Es geht um den Brexit.
Auch der Schriftsteller und Brexit-Gegner William Boyd kann keine neuen Argumente vorbringen – es ist ja alles gesagt worden, Sachliches und Unsägliches. Aber weil Sebastian Borger von der BERLINER ZEITUNG das natürlich weiß, fragt er Boyd listigerweise:
"Gehören Sie etwa zu der winzigen Minderheit von Briten, denen die EU gefällt?"
Boyds Antwort:
"Die Befürworter (der EU) haben das Problem, dass Brüssel und alle seine Institutionen seit Jahrzehnten von der britischen Presse dämonisiert werden. Ohnehin kann man ja schwer argumentieren: 'Der Bürokratenapparat einer internationalen Organisation ist etwas ganz Tolles.' Das glaubt erstens niemand, und zweitens würde niemand so abstimmen. Stattdessen redet das EU-Camp zu Recht von den Risiken, die ein Brexit bereithält. Wir sind stärker in einem vereinigten Europa."
So William Boyds Credo in der BERLINER ZEITUNG. Es schließt mit den Worten:
"Ich bleibe beunruhigt."

Historiker Timothy Garton Ash: Diskutiert miteinander!

Der Historiker Timothy Garton Ash.
Der Historiker Timothy Garton Ash: "Es geht um Debatten von Angesicht zu Angesicht." © picture alliance / dpa / Henning Kaiser
Weil es dem britischen Historiker Timothy Garton Ash kein bisschen anders geht, fordert er im Berliner TAGESSPIEGEL, jeder vernünftige britische Demokrat müsse jetzt noch einmal alles geben.
"Es geht (...) um Debatten von Angesicht zu Angesicht, in den Läden, den Kneipen, bei uns im eigenen Zuhause. Echte Leute, die mit anderen echten Leuten diskutieren. So wurde Demokratie an ihren Anfängen bei ihrer Erfindung in Athen gehandhabt. (...) So könnten wir das nicht ununterbrochen fortführen. Aber diese Woche, jetzt, zu diesem Zeitpunkt, müssen wir es tun."

Bestsellerautor Robert Harris: "Ventil der Unzufriedenheit"

Schriftsteller Robert Harris in seinem Haus in Berkshire
Schriftsteller Robert Harris: "Wahrscheinlich ist es die wichtigste Stimme meines Lebens."© picture alliance / dpa / epa Frantzesco Kangaris
Nicht weniger pathetisch zeigt sich der britische Bestsellerautor Robert Harris, der in der Tageszeitung DIE WELT sein Votum am Donnerstag kundtut:
"Wahrscheinlich ist es die wichtigste Stimme meines Lebens."
Auch Harris wird gegen den Brexit stimmen – aber dass er überhaupt abstimmen muss, das lastet er dem Referendum-Erfinder David Cameron an:
"Wenn eine Mehrheit für den Austritt stimmt, geht er als einer der schlechtesten Premiers aller Zeiten in die Geschichte ein. Dann hat er aus rein parteilichen Gründen das Land in eine Verfassungs- und Wirtschaftskrise gestürzt. Meines Erachtens hat er geglaubt, das Referendum wäre leicht zu gewinnen. Stattdessen ist es ein Ventil der Unzufriedenheit geworden. Nicht nur mit Brüssel, sondern mit allem. Mit der Elite in London. Mit der konservativen Partei. Mit den Bankern (...). Und wer könnte es den Menschen verdenken, dass sie 'Zur Hölle mit Euch allen' sagen, wenn sie einmal im Leben die Möglichkeit haben?"
Wie auch immer das Referendum ausgeht, die Politik in Großbritannien wird laut Robert Harris künftig so oder so ...
"Ziemlich hässlich. Nationalistisch. Rassistisch. Eine Politik der Angst, jenseits von rechts und links, offen für Demagogen."

Kommt danach der Grexit, Dexit, Schwexit?

Nun haben wir drei prominente Stimmen gegen den Brexit gehört – hier die Überraschung: Es ist ausgerechnet die TAGESZEITUNG, die unter der Überschrift "Lieber ohne die Briten" für den Brexit wirbt ...
Genauer gesagt: Es ist der italienische Journalist Marco D'Eramo, der im Referendum eine der letzten Chancen für die EU sieht, "weder zu implodieren noch zur technokratischen Diktatur zu werden".
D'Eramo ist der unter EU-Visionären gängigen Meinung, dass die Union eine "europäische Volksouveränität" benötigt, zu deren Gunsten die nationalen Parlamente naturgemäß einen Teil ihrer Souveränität abgeben müssten.
"Wenn es (...) eine europäische Demokratie geben soll (so D'Eramo), dann muss ein Italiener den Spanier Pablo Iglesias wählen können und eine Deutscher Alexis Tsipras. Solange einzelne Staaten dagegen ihr Veto einlegen können, wird es eine solche Wendung der Dinge nicht geben."
Was D'Eramo insinuiert, ist eindeutig: Ohne die Briten hätte die EU auf dem Weg zur Volkssouveränität einen notorischen Quertreiber weniger.
Bleibt die Frage, ob nach dieser Logik nicht jeder Exit – Grexit, Dexit, Schwexit und so weiter ... etwas für sich hätte. Und wenn wir uns das überlegen, dann wird uns mit Blick auf die EU so, wie es eine TAZ-Überschrift ausdrückt – nämlich: "Apokalyptisch zumute".
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