Aus den Feuilletons

"Gewürze und Ketchup können Wollust wecken. Meidet sie."

Plastikflaschen mit Ketchup, Mayonnaise und Senf stehen am 14.02.2017 in Frankfurt am Main (Hessen) auf dem Paulsplatz auf dem Tisch eines Straßenlokals, das sich auf das Servieren von Pommes Frites und Würtschen spezialisiert hat.
Der Religionsgelehrte Nurettin Yildiz, gab den muslimischen Türken Tipps, wie sie Wollust vermeiden könnten, weiß die "FAZ". © picture alliance / Frank Rumpenhorst/dpa
Von Tobias Wenzel · 10.03.2018
So viel Dissonanz war selten: Die "Faz" kritisiert, dass ein misogyner Hodscha seine Thesen verbreiten darf, die "Zeit" diskutiert das Pro und Contra einer geschlechtsneutralen Nationalhymne, und die "Welt" und die "Berliner Zeitung" befassen sich mit der "Causa Tellkamp".
"Banales, Bestialisches, Gerüchte und präzise Berichte stehen unterschiedslos nebeneinander", sagte der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Gespräch mit Jörn Lauterbach von der WELT und meinte das Internet. "Zu viel Information, ungefiltert und ungeordnet, macht Desinformation effektiver", erläuterte Pörksen, der seine Thesen im Buch "Die große Gereiztheit" formuliert hat.
"Denn in einer solchen Situation der Überforderung greifen viele Menschen auf ihre Vorurteile zurück und halten sich an das, was sie immer schon gedacht und geglaubt haben. […] Wir Menschen sind bestätigungssüchtige Wesen und finden Dissonanz unangenehm."
Diese rückblickende Kulturpresseschau wird in diesem Sinne äußerst unangenehm für Sie, liebe Hörer. Denn die Feuilletons dieser Woche waren ganz besonders von Dissonanz geprägt. Oder glauben Sie etwa auch, dass Bettdecken eine Gefahr für die Moral darstellen?

Ein Hodscha wünscht sich Frauen, die für Prügel dankbar sind

Bülent Mumay zitierte in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG den Religionsgelehrten Nurettin Yildiz, einen sogenannten Hodscha, der den muslimischen Türken nun folgende Anweisungen gab:
"Schließt unverzüglich die Augen, wenn ihr im Bett liegt, und schlaft sofort ein. Die Struktur von Bett- und Wolldecken soll den Sexualtrieb nicht aufreizen. Auch Gewürze und Ketchup können Wollust wecken. Meidet sie."
Yildiz wurde durch seine Fatwa "Auch sechsjährige Mädchen können heiraten" bekannt. Die Justiz habe nichts gegen Yildiz unternommen, stattdessen auf seinen Antrag hin Nachrichtenportale zensiert, die seine Fatwas kritisiert hatten, berichtete Mumay. Kurz vorm Weltfrauentag habe Yildiz gesagt:
"Frauen sollten dankbar sein, wenn sie von ihren Männern verprügelt werden. […] Allah hat Männern erlaubt, Frauen zu schlagen, um Dampf abzulassen."
Gleichheit sieht anders aus.

Geschlechtsneutrale Nationalhymne vs. sprachliche Korrektheit

Die Gleichstellungsbeauftragte im Bundesfamilienministerium Kristin Rose-Möhring schlug vor, den Text der deutschen Nationalhymne geschlechtsneutral umzudichten. Aus "brüderlich" soll "couragiert", aus "Vaterland" "Heimatland" werden. Eine "berechtigte", aber noch "viel zu bescheiden" formulierte Forderung, urteilte Marie Schmidt in der ZEIT.
"Seit 1922 wird August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens Deutschlandlied als dominant männliche Nationalhymne gesungen. Denkbar wäre, genauso lang, also die nächsten 96 Jahre, 'Mutterland' zu singen und 'schwesterlich mit Herz und Hand' – für ausgleichende Gerechtigkeit."
Jens Jessen gab, ebenfalls in der ZEIT, Contra: Das Wort "brüderlich" meine doch nur "solidarisch". Das vorgeschlagene "couragiert" treffe diesen Sinn überhaupt nicht. Da könne man ja gleich "marktgerecht mit Herz und Hand" singen. Denn "darin können sich die Ich-AGs jeglichen Geschlechts, auch jeglichen Zwischengeschlechts wiederfinden."
Johan Schloemann schrieb in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG nicht etwa mit Blick auf die politische, sondern auf die sprachliche Korrektheit:
"[…] das Versmaß, ein katalektischer trochäischer Vierheber, verlangt am Anfang der Zeile ein anfangsbetontes Wort. ‚Couragiert …‘ passt also, weil endbetont, gar nicht in den Vers. Jede Fußballfankurve würde beim Grölen darüber stolpern."
Und "Heimatland" statt "Vaterland" sei nicht nur ein unübliches Wort, sondern auch politisch brisant:
"'Blühe, deutsches Heimatland!‘ […] klänge in Zeiten des Rechtspopulismus, ob gewollt oder nicht, viel nationalistischer, viel mehr nach eigener Scholle und ethnischer Abschottung."

Wasserträger für jene, die politisch auf Risse, Hass und Ressentiment setzen

Das könnte aber vielleicht dem Schriftsteller Uwe Tellkamp gefallen, der sich gerne mit der traditionellen Dresdner Winzermütze auf dem Kopf zeigt. Ob die auch die Flüchtlinge in Deutschland tragen dürfen, verriet er bei einer Dresdner Diskussionsveranstaltung zur Meinungsfreiheit nicht. Stattdessen behauptete er einfach mal so:
"Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent." – "Der Schriftsteller Tellkamp gibt den rechten Mann", textete Stefan Locke bewusst zweideutig in der FAZ und berichtete, bei Tellkamps Behauptung, wer regierungskritisch sei, könne nur die AfD wählen, sei dem mitdiskutierenden Dichter Durs Grünbein der Kragen geplatzt:
"'Wenn alle so unzufrieden sind mit der Regierung, dann wird sie abgewählt, so einfach ist das! Stattdessen werde hier so getan, als wären die Leute eingeschüchtert und müssten reden wie Merkel. Was ist denn das für ein Scheiß?‘ fragte Grünbein. ‚Sind die denn alle programmiert, oder was?‘".
Der Suhrkamp-Verlag distanzierte sich von Tellkamps Meinung. Das wiederum empörte Tilman Krause von der WELT: "Suhrkamp wechselt ins Lager der Gesinnungsprüfer" titelte er. Der Verlag mache genau das, was Tellkamp kritisiert habe.
"Eine wichtige, klare Stellungnahme", lobte dagegen Dirk Pilz den Verlag in der BERLINER ZEITUNG:
"[Tellkamp] hat sich hier nicht nur als Verbitterter geoutet, der sich jeder kritischen Selbstreflexion verweigert, sondern als Wasserträger all jener, die politisch auf Risse, Hass und Ressentiment setzen."

Offener Brief an die AfD

Mit so viel Gereiztheit und Dissonanz sollte man dann doch lieber nicht enden. Drum zum Schluss noch etwas Versöhnliches von der deutsch-türkischen Journalistin und studierten Konfliktlöserin Cigdem Toprak. Für die WELT verfasste sie einen offenen Brief an die AfD-Wähler.
"Die Verletzung der Menschenwürde kennt kein ‚rechts‘, kein ‚links‘. Rassismus kennt kein ‚mit‘, kein ‚ohne Migrationshintergrund‘", schrieb Toprak und endete mit den Worten:
"Ich vertraue Ihnen, obwohl Sie AfD wählen. Weil sie den Essay bis hier gelesen haben. Ich werde für Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung kämpfen und für Ihre Würde eintreten. Aber werden Sie auch meine Menschenwürde schützen? Werden Sie es versuchen?"
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