Aus den Feuilletons

Gedanken zur Europawahl

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Am Sonntag wird in Deutschland das EU-Parlament gewählt. © imago stock&people
Von Klaus Pokatzky · 25.05.2019
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1989 habe in Osteuropa keiner geglaubt, dass die Demokratie jemals wieder in Frage gestellt werden könnte, sagt Herta Müller im Interview mit der „FAZ“. Die „taz“ hingegen fragt: „Müssen wir erst scheitern, um Europa noch zu retten?“
"Zitate führen ein Eigenleben", war in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG zu lesen. "Wer zitiert, stellt sich auf die Schultern jener Geister, die er für zitatwürdig hält", schrieb Paul Jandl – eine schöne Beschreibung der Kulturpresseschau. "Wer zitiert, verschafft sich Autorität. Ist er im Irrtum, dann irrt er nicht allein." Also holen wir uns eine berühmte Literatin dazu: "Ich glaube, in der Sprache wird sowieso alles erfunden." Das sagt Herta Müller.
"Demokratie ist entweder liberal, oder sie ist keine", erklärt sie außerdem im Interview mit der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG – und führt uns dann gleich in den großen europäischen Wahlsonntag hinein:
"Niemand hat 1989 gedacht, dass in Osteuropa die Demokratie jemals wieder in Frage gestellt werden könnte", erinnert sich die Literaturnobelpreisträgerin, "sondern im Gegenteil, dass es in dreißig Jahren total demokratisch sein wird. Dass es egal ist, ob man in Osteuropa oder in Westeuropa lebt. Dass die Leute Elan haben und man etwas aufbauen kann." Und heute?

Einheit durch Verschiedenheit

"Müssen wir erst scheitern, um Europa noch zu retten?", fragte die Tageszeitung DIE WELT. "Die Heilung versprechende Krise der europäischen Einheit setzt gegen die Verschmelzung des Vielen zur Einheit die Einheit durch Verschiedenheit." So gab der emeritierte Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung Bazon Brock eine zumindest halb optimistische Antwort.
"Europa ist kein sprechendes Subjekt", stand in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. "Jedes Land deutet Europa nun einmal durch die verbrauchten Filter der eigenen Medien", befand Paul Ingendaay. "Was Finnen, Portugiesen, Slowenen oder Letten von Europa wollen, entspringt sowieso nationalem Selbstinteresse, und bei den Deutschen ist es nicht anders, auch wenn wir das durch feine Reden verschleiern."

Ein Kontinent voller Selbst- und Fremdklischees

Und was könnte da der ideale Europäer sein? "Er sollte kochen können wie ein Brite, Auto fahren wie ein Franzose und Humor haben wie ein Deutscher", erfahren wir aus der WELT AM SONNTAG und werden dann doch etwas heiter gestimmt. "Kein Kontinent kennt und verbreitet mehr kulturelle und ethnische Klischees über sich selbst", meint Marc Reichwein dann doch wieder sehr ernst. "Schon Erasmus von Rotterdam wusste, dass wir ein Kontinent voller Selbst- und Fremdklischees sind. Dazu brauchte er keine Europawahlen, keine Eurovisions-Fanfare und auch keine Champions League."
Freuen wir uns, dass wir all das haben, gehen wir am Sonntag wählen. "Was ich an Europa liebe, ist, dass es eine politische Konstruktion ist", bekannte der britische Schriftsteller Tom McCarthy. "Wir können es auch eine Fiktion nennen, die nicht darauf beruht, welcher Rasse du angehörst, sondern auf einem Vertrag, deren Grundlagen man teilt. Das erlaubt eine sehr große Pluralität von Kulturen und Völkern", sagte er im Interview mit der WELT.

Zerstörung der Demokratie

Manchmal vermischen sich Realität und Fiktion eben – mal zum Guten, mal zum Unglaublichen. "In Österreich hat sich gezeigt, wie größenwahnsinnig und korruptionssüchtig die Nationalisten sind", meint Herta Müller noch in ihrem Gespräch mit der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG. "Sie reden am liebsten von 'ihrem Volk', aber in der Hoffnung auf Macht durch russisches Geld sind sie bereit, ihr Land zu verscherbeln. Sie verehren und beneiden Putin. Wie in Osteuropa betreiben auch sie die Zerstörung der Demokratie. Das Ibiza-Video ist eigentlich ein Mafiafilm und die Protagonisten derart gemein und verwahrlost, dass es mich gruselt."
Andere kamen bei dem Video mit dem nun zurückgetretenen Vizekanzler Heinz-Christian Strache auf ganz andere Gedanken. "Als ich von dem Ibiza-Video hörte, war ich nicht überrascht", bekennt der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic. "In meinem früheren Leben, als ich noch Drogen nahm und soff und bei jedem Blick in den Spiegel durch mich hindurchsah in eine Leere, der ich nicht gewachsen war, hätte ich dabei sein können", schreibt er in der WELT AM SONNTAG. "Das Problem der österreichischen Gesellschaft ist die Selbstverleugnung. Wer wir sind, wollen wir nicht wissen, und wenn wir es wüssten, würden wir es nicht sein wollen."

Über Detektive und Hochstapler

Und wer steckt nun hinter dem Video? Die Spekulationen blühen. "Dann ist es, einerseits, ein Glück, dass es am Ende in den richtigen Händen gelandet ist", heißt es in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG. "Anderseits kann man nur hoffen, dass sich hinter den abenteuerlichen Detektivgeschichten, die nun erzählt werden, nicht der nächste Skandal verbirgt", findet Harald Staun.
"Hochstapler sind unbeliebt", warf die NEUE ZÜRCHER da einen Blick ins Grundsätzliche. "Sie sind charakterlos, kriminell und kaum je Helden", meinte Sarah Pines. "Hochstapler leben einen kindlichen Spieltrieb aus, der in uns allen steckt: sich verkleiden, andern etwas vorspielen, so tun als ob. Es sind grundlegende menschliche Eigenschaften, die der Hochstapler auslebt."
Und wieder gilt die alte Grundregel: "Das Zitat ist ambivalent. Im Schönen wie im weniger Schönen kann es Dinge auf den Punkt bringen", wie Paul Jandl in der NEUEN ZÜRCHER erklärte. "Oft kommt man ja auch nicht drauf, was man sagen will, und dann hat es praktischerweise schon jemand anderer viel besser gesagt."
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