Aus den Feuilletons

Es geht immer nur um Gewalt

Auf der Stirn einer Person zwischen den Augenbrauen steht "NO!".
"Keine Gewalt" möchte man auch manchem Künstler zurufen © imago / Photocase
Von Arno Orzessek · 24.04.2018
Gewalt in der Kunst in allen Facetten: die "Süddeutsche Zeitung" fahndet nach Brutalem in der Musik, der "Tagesspiegel" betrachtet das Filmgeschäft und es bleibt die Frage, wie sich Gewalt in der Kunst zu realer Gewalt verhält.
"Lauf weg, junges Mädchen!" titelt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG und bebildert den Artikel mit einem stilisierten roten Mund. Der an das berühmte Logo der Rolling Stones erinnert, obwohl sich aus dem SZ-Mund keine Zunge gierig-schlüpfrig herausreckt. In der Bildunterschrift ist von "lustvollen Lippen" die Rede, aber halt "weiblich entfremdet, skeptisch, aggressiv, sexy".
Und eben diese lustvoll verfremdeten Stones-Lippen schmücken auch das Cover des Buches "Under My Thumb – Songs That Hate Women And The Women That Love Them", was in lockerer Übertragung heißt: ‘Unter meinem Daumen – Songs, die Frauen hassen, und die Frauen, die sie lieben’.
In dem bislang nicht übersetzen Essay-Band geht es laut SZ-Autor Jan Kedves darum "mit welchem Bewusstsein man heute zum Beispiel Death-Metal-Songs hören kann, in denen Männer darüber singen, wie sie Frauen mit Messern penetrieren und auf die ausgeweideten Gedärme geschlachteter Prostituierten onanieren. Interessanterweise fordert keine der Autorinnen ein Verbot der Musik. Das überrascht vielleicht, ist aber Ausdruck einer reflektierten feministischen Kunstrezeption."

Muss man unliebsame Kunst aushalten?

Wir können das brisante Thema hier nicht vertiefen, stellen aber die beiden Fragen in den Raum, mit den Jan Kedves seine Besprechung eröffnet: "Wie wäre es, wenn man unliebsame Kunst erst einmal aushielte? Bevor man sie gleich abhängen, übermalen, verbieten oder zensieren will?" Alles in allem scheint uns Gewalt in der Kunstgattung Film noch am wenigsten inkriminiert zu werden.
Deshalb muss auch "A Beautiful Day" von der schottischen Regisseurin Lynne Ramsay keine Zensur fürchten. Obwohl Joaquin Phoenix darin den traumatisierten Auftragskiller Joe spielt, der die Schädel seiner Opfer mit Vorliebe per Hammer zertrümmert, im Laufe der Handlung allerdings ein zwangsprostituiertes Kind zu retten hat.
Der Berliner TAGESSPIEGEL konstatiert im Interview mit Regisseurin Ramsay, Joe sei "eine exemplarische Figur. Der gebrochene Actionheld, der von der Gewalt gezeichnet ist". Ramsay sieht das nicht anders, kommt allerdings vom Kino aufs wahre Leben zu sprechen. "Joe ist fehlbar, er kann sich nicht mehr selbst erkennen oder seine Mitmenschen. Ich habe das Gefühl, dass sich unsere Gesellschaft an einem Wendepunkt befindet. Die Gewalt, die wir täglich erleben, ist so explizit, dass sie im Kino banal erscheint. Daher bin ich erstaunt, dass der Film als so brutal wahrgenommen wird, obwohl die Gewalt im Off stattfindet."
Felix Zwinzscher, der Film-Kritiker der Tageszeitung DIE WELT, scheint das mit dem Off der Gewalt nicht richtig mitbekommen zu haben – er resümiert jedenfalls unerfreut: "Es ist eine typische Kinogeschichte, in der selbst die brutalsten Gewaltausbrüche des Protagonisten moralisch legitimiert werden, weil sie sich gegen ein noch viel verwerflicheres Übel richten. Prostitution eines Kindes trumpft Mord mit einem Hammer. Vielleicht hilft derartige kinematografische Selbstjustiz, in der Realität Schlimmeres zu verhindern."

Über Gewalt in der Kunst wird ewig gestritten

Nun, darüber wird wohl ewig gestritten: Ob die Gewalt in der Kunst zur realen Tat anstachelt oder ob sie eher ein Abführmittel im Sinne der antiken Katharsis ist. Die polizeiliche Kriminal-Statistik gibt darüber natürlich keine Auskunft. Wohl aber besagt sie, wie die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG ungläubig registriert, dass 2017 "nur zwei Prozent antisemitischer Übergriffe muslimisch motiviert gewesen sind".
Regina Mönch hält das quasi für Fake News und beklagt "die Vergeblichkeit, mit der jüdische Organisationen und Gemeinden seit Jahren darauf hinweisen, die erfahrene Gewalt, verbale oder tätliche, gehe fast ausschließlich von Muslimen aus. Wie mögen sich die Opfer fühlen, wenn trotzdem immer wieder umstandslos das Gegenteil verkündet wird, damit die Welt wenigstens in den Rathäusern und Regierungsbehörden eine vertraute bleibt?" –
Tja, heute ging’s immer nur um Gewalt. Passend dazu stellt die SZ das neue Magazin "Verbrechen" vor, herausgegeben vom ZEIT-Verlag. Die SZ wittert laut Überschrift nichts anderes als ein "Mordsgeschäft".
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