Aus den Feuilletons

"Ein Willy Brandt war er nicht"

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Bundeskanzler Helmut Kohl begrüßt den SPD-Ehrenvorsitzenden Willy Brandt am 06.11.1991 zu einer Sitzung im Bundestag. © picture alliance / dpa
Von Klaus Pokatzky · 17.06.2017
Es sei undenkbar, dass prominente Autoren für Helmut Kohl Wahlkampf gemacht hätten wie für Willy Brandt in den frühen 70er-Jahren. "Kohl und die Künste, sie standen mit dem Rücken zueinander", schreibt Udo Badelt im "Tagesspiegel".
"Es ist ein fast ungeheuerlicher erster Satz."
Das steht in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG – und besser kann ein Blick in die Feuilletons ja kaum beginnen.
"Ein Buch von wahrer Größe und Schönheit",
wird uns hier präsentiert: Gaito Gasdanows Roman "Das Phantom des Alexander Wolf", der mit dem fast ungeheuerlichen ersten Satz beginnt:

Spitzenpolitiker über Bücher, die sie beeindruckt haben

"Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe."
Gleich auf sechs Seiten bringt die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG Buchbesprechungen. Die Rezensenten haben es in sich. Gaito Gasdanows Roman wird besprochen von Monika Grütters, der Staatsministerin für Kultur und Medien; Thomas Städtlers "Jahreszeitliche Gedichte" von der Linken Sahra Wagenknecht. Bundestagspräsident Norbert Lammert rezensiert die Autobiografie von Wolf Biermann, Finanzminister Wolfgang Schäuble die Maria Theresia-Biografie von Barbara Stollberg-Rilinger.
"Man erreicht nicht, was man will, und das dann noch mit unerwünschten Nebenfolgen",
bilanziert Buchkritiker Wolfgang Schäuble das Leben der Monarchin: "eine Mahnung zur Demut in der Politik."
Elf Spitzenpolitiker sind der Bitte der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG nachgekommen und haben über Bücher geschrieben, die sie beeindruckt haben.
"Für alle scheint es selbstverständlich zu sein, trotz ihrer sehr langen Arbeitstage, die oft in die Nächte hineinreichen, weiter Bücher zu lesen",
freut sich Julia Encke als Redakteurin:
"Das ist schon einmal eine gute Nachricht."
Und das ist eine schöne Bestenliste.

Durch das Feuilleton zieht ein Sturm

"Eigentlich könnte eine Top Ten lesenswerter Sachbücher eine tolle Sache sein",
war im Berliner TAGESSPIEGEL über eine andere Bücherliste zu lesen.
Eigentlich. "Durch das deutsche Feuilleton zieht ein Sturm", stellte die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG in eidgenössischer Nüchternheit, also ohne jede Übertreibung, fest. "Wie kam ein rechtsradikales Buch in die 'Sachbücher des Monats'?", fragte die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG. Kein Thema ist so durch die Feuilletons der Woche gewirbelt wie die Liste "Sachbücher des Monats Juni" des Norddeutschen Rundfunks und der Süddeutschen.
Auf Platz Neun hatte es das Buch 'Finis Germania' des Historikers Rolf Peter Sieferle, geschafft, der im Herbst 2016 Selbstmord begangen hatte. "Ein Buch mit klar rechtsradikaler Schlagseite, erschienen im Antaios-Verlag, einer Heimstätte für rechtsnationales Schrifttum", so die NEUE ZÜRCHER. Die Süddeutsche stellte die Veröffentlichung der Liste ein, ihr Redakteur Jens Bisky trat aus der Jury aus. Der NDR distanzierte sich, die Jury distanzierte sich. Und der Mann, der das Buch auf Platz Neun gehievt hatte, verließ ebenfalls die Jury: Johannes Saltzwedel vom Spiegel.
"Die 25 Juroren verteilen zusammen jeweils 20 Punkte auf vier Bücher", klärte uns der TAGESSPIEGEL auf. "Sie können akkumuliert werden", schrieb Christian Schröder. "Johannes Saltzwedel hat dreimal hintereinander, über einen Zeitraum von drei Monaten hinweg, für 'Finis Germania' gestimmt", war im neuen SPIEGEL zu lesen. Er wollte nach eigener Aussage "bewusst ein sehr provokantes Buch der Geschichts- und Gegenwartsdeutung zur Diskussion bringen".
So könnte man auch Hitlers "Mein Kampf" in eine Bücherliste argumentieren.
"Das Werk ist rechtsradikal, antisemitisch, geschichtsrevisionistisch",
meinte Susanne Beyer im SPIEGEL zu "Finis Germania" – die einen verzweifelten Eiertanz versuchte: Einerseits einen eigenen Redaktionskollegen nicht völlig in die Pfanne zu hauen; andererseits deutlich zu machen, dass sich ihr Blatt eindeutig von solchen Tendenzen distanziert:
"Jurytätigkeiten, Talkshowauftritte, private Buchprojekte müssen zwar von der Chefredaktion genehmigt werden; was dort aber geäußert und geschrieben, wofür da votiert wird, ist ins Ermessen der Kollegen gestellt."
In einem weiteren Artikel des SPIEGEL nahm Sebastian Hammelehle Rolf Peter Sieferles
"völkische Angstfantasie im Gewand einer geschichtsphilosophischen Etüde" nach allen Regeln der Kunst auseinander und sprach dann endlich das aus, worüber jeder rätselt, der das Große Latinum hat: "Müsste es nicht 'Germaniae' heißen, fragt sich der altsprachlich gebildete Leser."

Kohl und die Künste

Die Frage hätte uns bestimmt der Mann beantworten können, der uns nun verlassen hat: als er noch Geschichte studierte, war das Große Latinum dafür Voraussetzung. "Ein Willy Brandt war er nicht", lesen wir im TAGESSPIEGEL vom Sonntag. "Undenkbar, dass prominente Autoren für Helmut Kohl Wahlkampf gemacht hätten wie für den SPD-Politstar in den frühen 70er-Jahren. "Kohl und die Künste, sie standen mit dem Rücken zueinander", schreibt Udo Badelt:
"Was natürlich nicht verhinderte, dass der Kanzler selbst zum Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung wurde. Vor allem für die Meister des schnellen Striches war die legendäre 'Birne' ein Geschenk, wie es nicht oft vorkommt."
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG bringt eine originelle Würdigung. Sie druckt eine Erzählung aus Marcel Beyers jüngst erschienenem Buch "Das blindgeweinte Jahrhundert", in der er "vom Besuch Helmut Kohls am Grab des Dichters Rainer Maria Rilke erzählt, am 14. April 1989".
Im Örtchen Raron war das, im Schweizer Kanton Wallis.
"Von dem Moment, als der Staatsgast vor Rilkes Grab steht, lässt sich keine einzige Aufnahme auftreiben",
so Marcel Beyer,
"sei es, dass die mitreisenden Fotografen hier auf dem Totenacker aus Gründen der Pietät nicht abgedrückt haben, sei es, dass die Bilder nie freigegeben wurden. Ob der Gast an Rilkes letzter Ruhestätte Tränen vergießt, wüsste kein Mensch zu sagen."
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