Aus den Feuilletons

Ein Blick in die Unterwelt

Ein Kanaldeckel der Stadtwerke Görlitz, aufgenommen am 11.04.2011 in Görlitz
Kanaldeckel wie dieser hier im deutschen Görlitz haben eine große optische Vielfalt - in fast jeder Stadt sehen sie anders aus © dpa picture alliance / Robert Schlesinger
Von Ulrike Timm · 01.03.2018
Die "Neue Zürcher Zeitung" richtet den Blick nach unten: Auf Kanaldeckel. Die Menschen, die sich damit beschäftigen, nennen sich Dolologen, eine noch recht junge Disziplin. In der "Süddeutschen Zeitung" geht es hingegen um "Multimedia-Keyboard-Expressionisten", in der "Welt" um Nacktheits-Hysteriker.
"Sie liegen uns vor den Füssen. Aber leider finden Kanaldeckel selten die Beachtung, die sie verdienen."
Oh, wie lieben wir doch die NZZ für ihren klaren, bedächtigen, absolut grundständigen Blick auf die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. In der sehr speziellen Rubrik "Experten-Revue" eröffnet uns Hans Magnus Enzensberger den "Einstieg zur Unterwelt". Via Kanaldeckel.
"Der Straßenboden ist geprägt von zahllosen Verschlüssen und Einlaufrosten, dem sichtbaren Teil unserer Versorgungs- und Entsorgungssysteme."
Und Enzensberger, den Blick immer knapp über dem Boden, erzählt von den Kennern und Liebhabern der Kanaldeckelkunst, die heißen Dolologen. Die Bezeichnung dieser Spezies alarmiert sofort das Rechtsschreibprogramm des Computers der Pressebeschauerin, aber Enzensberger und die NZZ klären uns auf:
"In der Schweiz gibt es einen Verein, in dem sie sich organisiert haben, und eine neue, von ihnen selbst ersonnene Wissenschaft, die Dolologie. Diese bisher vernachlässigte Forschung betreiben sie, wie man in England sagt, 'tongue in cheek', mit einem Anflug von Ironie, aber mit Überzeugung."

Aufs Feinste sensibilisiert

Und die Bildredakteure der NZZ dekorieren die Dolendeckeldichtung Enzensbergers mit dem Foto eines Kanaldeckelmosaiks, denn:
"Die wenigsten haben ein Auge für all die Muster, Farben und Formen von Dolendeckeln."
Machen wir, optisch jetzt aufs Feinste sensibilisiert, einen kleinen Streifzug durch verschiedenste Ausstellungen, denen sich die Feuilletons heute widmen. Da geht es zum einen um Neues und Neuestes, "Leute! Wir können so heiß sein", schreibt die SÜDDEUTSCHE, halb schwärmend, halb skeptisch über eine Schau im Münchner Haus der Kunst, die sich als "Gruselkabinett der Post-Millennials" entpuppt, so Catrin Lorch.
"Die Generation der Multitasker, im Alltag daran gewöhnt, dass zur Youtube-Playlist auch Bilder mitrauschen und Breitwandkinos ja auch Sound-Schleudern sind, kann souverän über die Grenzen von Kunst-Sparten und Medien hinweg denken. Diese Künstler sind nicht nur in Marmor und Ölfarbe virtuos, sie verfügen auch souverän über Kenntnisse in Steuerungstechnik und 3-D-Fertigung, sie geben Produktionsreihen in Auftrag und könnten ihre Laptops zum Singen bringen. Das Paradox ist, dass in solchen Werken Denken und Fühlen, das große Gegensatzpaar, einmal anders ausbalanciert wird. Während die Nachkriegskunst bis zur Jahrtausendwende sehr auf der Denken-Seite zugange war, springen die Post-Millennials auch mal auf, um einfach zu tanzen oder sich die Kleider voll zu kleckern."
Es entstünde ein "Multimedia-Expressionismus am Keyboard", schreibt die SZ. Den Ausdruck wollen wir uns gerne merken.

Auch Dinge dürfen auf Facebook nicht nackt sein

Wen leise Zweifel packen, ob von den Werken der schnell gerühmten Alleskönner denn tatsächlich auch was haften bleibt, den berührt womöglich eine Mailänder Ausstellung stärker, die Albrecht Dürers Reise nach Venedig und ihre Folgen für die Renaissancekunst in Deutschland und Italien zeigt, wahre "Kulturvermittlung auf Gegenseitigkeit", schön beschrieben und bebildert ebenfalls in der SZ.
Die FAZ geht zurück bis zu den alten Ägyptern, an deren Mumien findige Wissenschaftler die wohl ersten figürlichen Tattoos der Menschheitsgeschichte gefunden haben – Entdeckungen, die "das Verständnis der Tätowierungspraxis" verändern, so heißt es! Und dann taucht die FAZ noch tiefer ab, ins Paläolithikum wie in die Tiefen dauerbeschäftigter Facebook-Algorithmen. Die haben bekanntlich die ausladende Nacktheit der 30.000 Jahre alten Venus von Willendorf moniert. Die elf Zentimeter kleine Figur steht friedlich im Naturhistorischen Museum von Wien, wo noch keiner gefordert hat: "Zieht sie an!".
Ob's eine Erklärung ist für Dolologen, Multimedia-Keyboard-Expressionisten, Frühest-Tätowierer und Nacktheits-Hysteriker wagen wir nicht zu beurteilen, küren aber eine Frage aus der WELT zu unserem Wort zum Freitag:
"Wie soll Großes entstehen, wenn nie einer austickt?"
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