Aus den Feuilletons

Donnerschlag bei der Poetikvorlesung

Der Schriftsteller Christian Kracht
Der Schriftsteller Christian Kracht hat für großes Aufsehen bei seiner ersten Poetikvorlesung gesorgt. © Deutschlandradio / Jelina Berzkalns
Von Tobias Wenzel · 19.05.2018
Bei der ersten von drei Poetikvorlesungen von Christian Kracht ging es ganz unerwartet um sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen. Der Schutzbefohlene war Christian Kracht selbst. Das hinterließ einen bleibenden Eindruck in den Feuilletons der Woche.
"Du sollst ruhig zweifeln!", titelte DIE ZEIT, "Zweifel ist der Antrieb des Geistes", womit der rote Faden dieser Feuilletonwoche formuliert war. Als Fest des Heiligen Geistes handle auch Pfingsten vom Zweifel, behauptete Evelyn Finger: "Ohne Zweifel keine Kritik und ohne Kritik kein Streit. Ohne Streit keine Freiheit und ohne Freiheit kein Frieden."
"Ich weiß nicht, wie bald Israeli und Araber Frieden schliessen werden", sagte, 70 Jahre nach der Gründung des Staates Israel, der Schriftsteller Amos Oz im Gespräch mit der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG und betonte den Zweifel: "Ich bin sehr gut darin, das Wetter von gestern zu bestimmen, nicht das von morgen."

Justiz darf nicht nach Sympathie entscheiden

Darf man, hier der Satiriker Jan Böhmermann, ein beleidigendes Gedicht über jemanden, hier den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, veröffentlichen, wenn man vorab betont, dass genau das nicht erlaubt ist? 18 von 24 Zeilen des Gedichts bleiben verboten, entschied nun das Hamburger Oberlandesgericht. Zum Schluss werde das Bundesverfassungsgericht entscheiden, vermutete Christian Rath in der TAZ, denn es seien durchaus Zweifel angebracht:
"Einem Filou wie Böhmermann lässt man das vielleicht noch durchgehen, vor allem, wenn es einen Politiker wie Erdoğan trifft, der sich immer mehr zum Despoten entwickelt. Doch die Justiz darf eben nicht nach Sympathie entscheiden. Sie muss Maßstäbe entwickeln, die auch dann brauchbare Ergebnisse liefern, wenn ein rechter Künstler Böhmermanns Methode auf den israelischen Staatschef anwenden würde."

Zweifel an den angeblichen Werten des DFB

Die türkischstämmigen deutschen Fußballnationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan haben Erdoğan kein Gedicht, sondern Trikots mitgebracht, sich dabei stolz mit ihm fotografieren lassen und so der Propaganda gedient. "Die törichte Handlung ist das eine", schrieb Jürgen Kaube in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.
"Das andere ist, dass die Spieler jetzt mit erhobenem Zeigefinger an die Werte erinnert werden, für die der Deutsche Fußball-Bund stehe." Kaube bezweifelte die angeblichen Werte und sprach von Verlogenheit: "Man fuhr 1978 nach Argentinien, man fährt jetzt nach Russland und dann nach Qatar. Wann immer es um Diktaturen ging, zeigte sich der DFB in seiner Geschichte auslegungsbereit."

Die Lüge vom Selbstmord der Lemminge

Wer glaubt, Lemminge begingen Selbstmord, der hat, liest man aus Cord Riechelmanns Artikel für die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG heraus, nicht genug gezweifelt. Die Legende beruht auf einem Disney-Dokumentarfilm von 1958:
"Disneys Szenen wurden im kanadischen Alberta gedreht, wo es gar keine Lemminge gibt. Die Filmemacher hatten sie Eskimokindern in Manitoba abgekauft und dann nach Alberta geschafft. Um den Eindruck von Massen zu erzeugen, wurden die Tiere auf eine große, schneebedeckte Drehscheibe gesetzt, die dann in Rotation versetzt und aus allen möglichen Kamerawinkeln gefilmt wurde. Und um dem Ganzen noch einen letzten Kick zu geben, schubsten die Filmleute die gar nicht lebensmüden Lemminge die Klippe hinunter oder warfen sie in die Tiefe." Mord also anstatt Selbstmord.

Schlagabtausch zwischen Tom Wolfe und Norman Mailer

Selbstzweifel kannte der nun gestorbene US-amerikanische Autor Tom Wolfe, dessen Markenzeichen weiße Anzüge waren, nicht: Er hielt sich genauso wie Norman Mailer für den besten Journalisten unter den Schriftstellern. Wozu das führte, beschrieb Claudius Seidl in der FAZ:
"'Es wirkt ein bisschen dumm, wenn ein Mann immer weiße Anzüge trägt, vor allem in New York', so fing Mailer den Streit an, der Literaturgeschichte geworden ist. Wolfe konterte: 'Der Rudelführer ist immer der, den die anderen in den Arsch beißen wollen.' Worauf Mailer richtig böse wurde: 'Wenngleich es stimmt, dass die anderen Hunde den Anführer immer in den Hintern beißen wollen, heißt das noch lange nicht, dass einer der Anführer ist, bloß weil er einen blutigen Hintern hat.'"
Was ist eigentlich schlimmer: Wenn man zu wenig zweifelt oder zu viel? Dass es immer noch Menschen gibt, die den Klimawandel verdrängen oder ihn gar bezweifeln, lässt den Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber verzweifeln: "Manchmal denke ich morgens, wäre ich besser nicht aufgestanden", erzählte er der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. "Gerade kam ein Weltbankbericht heraus: 140 Millionen Klimaflüchtlinge bis 2050, und zwar allein schon innerhalb der betroffenen Länder, ohne die grenzüberschreitende Migration."

Neugeburt des Schriftstellers Christian Kracht

Christian Kracht wollte stets Zweifel fördern, wie man ihn interpretieren soll. Und nun dieser "Donnerschlag", wie die FAZ Krachts erste von drei Poetikvorlesungen an der Uni Frankfurt nannte. Der Autor schilderte, wie er sich als Schüler eines kanadischen Internats vor einem Pastor ausziehen musste:
"'Ich spürte, wie er mir dann sieben oder acht Schläge mit dem ledernen Gürtel auf Rücken und Hinterteil klatschen ließ. Ich hörte ihn leise stöhnen, und ich muss heute annehmen, dass er sich hinter mir stehend, sein Schlagwerk und den schmächtigen, nackten Knaben vor sich gebeugt betrachtend, selbst befriedigt hatte.' Der Anfang der Frankfurter Poetikvorlesungen markiert nicht weniger als eine Neugeburt des Schriftstellers Christian Kracht", kommentierte Jan Küveler in der WELT.
"Jeder Roman, jede Erzählung war, so sieht es nach dieser großen Rede aus, einer einzigen Frage gewidmet: Der Frage, wie eine Kultur, die so viel Schönes hervorgebracht hat, gleichzeitig so grausam sein kann", deutete Felix Stephan in der SZ.
"Zum ersten Mal gab es doch etwas, das nicht ambivalent zu verstehen war", schreibt Julia Encke in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG. Jan Wiele von der FAZ bewahrte sich aber Zweifel am vermeintlich nicht zu Bezweifelnden: "Jammernd und schaudernd fragt man sich: Wird der Schriftsteller uns bei den noch ausstehenden zwei Vorlesungen einen neuen Rahmen setzen, der die erste in anderem Licht erscheinen lässt?"
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