Aus den Feuilletons

Debatten über Halbwesen und ein bisschen Musik

Von Arno Orzessek  · 08.03.2014
Auseinandersetzungen über Pop, die richtige Auswahl der Oscars und natürlich die Ukraine bestimmten die Debatten der Feuilletons in dieser Woche. Ganz besonders brisant: Sibylle Lewitscharoffs "Dresdner Rede".
Dass es bis zum Ende der Woche in den Feuilletons äußerst lebhaft zugehen würde, konnte man am Anfang natürlich nicht wissen…
Aber immerhin!
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG druckte schon am Montag unter dem Titel "Wunderbarer Lärm" einen hymnischen Lobgesang auf den Pop als wahre Weltheilungsmedizin.
"Gerade das Nebeneinander der ungezählten Stile im Pop hat dazu geführt, ein Anders-Sein des Anderen zu akzeptieren, ja, als Chance zu begreifen. […] Es geht nicht um Wahrheit. Es geht nicht darum, für irgendeine Wahrheit zu töten oder zu sterben. Es geht darum, besser zu leben, nach dem eigenen Glück und manchmal auch nach dem Glück der anderen zu streben. My life was saved by Rock’n’Roll. Könnte auch Techno gewesen sein. Oder Twist. Oder eben Jazz",
jubelte Karl Bruckmaier.
Folgt man der Tageszeitung DIE WELT, ist Pharell Williams derzeit "der größte gemeinsame Nenner des Pop" und zeigt sich in dem Album "G I R L" offenbar als begnadeter Frauenversteher.
"'G I R L‘ ist Williams Verneigung vor der Weiblichkeit [so Frédéric Schwilden]. Und das ist keine Pose im Sinne von, ja, ich tu jetzt so, als feiere ich die Frau, insgeheim will ich aber, dass sie ausschließlich unten liegt. Nein. ‚G I R L‘ ist die absolute Hingabe. Williams aalt sich nicht in penetranter Selbstbefriedigung, er will sein Girl so was glücklich machen.“
Poptheoretiker konnten sich über Besprechungen von Diedrich Diederichsen "Über Pop-Musik" freuen. Gerit Bartels fasste das Buch im Berliner TAGESSPIEGEL so zusammen:
"So sehr Diederichsen die Popmusik als eigene, besondere Kunstform versteht, so zuwider sind ihm die 'immer ähnlicher werdenden Mittelschichtsmodelle‘ von Popmusik, so ungern sieht er sie auf dem Weg zur 'abgehobenen High-Art'. Am liebsten wäre es ihm, sie könnte sich weiterhin schön zwischen Kunst und der 'Unkunst der Kulturindustrie' positionieren."
Wir bleiben populär, aber wechseln das Genre.
Die Verleihung der Oscars kommentierte in FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Andreas Platthaus.
"Sieben zu drei – und doch ein Oscar-Unentschieden. Der wichtigste Filmpreis der Welt hat seine Sympathien salomonisch zwischen dem grandiosen Unterhaltungskino von 'Gravity' und dem politischen Anspruch von '12 Years a Slave' aufgeteilt."
Susan Vahabzadeh fand die Entscheidung in der SZ wenig überraschend, erkannte aber hintergründig einen "Wandel [], der für die Filmindustrie wichtig ist".
"Die Branche scheint sich […] sehr bewusst zu sein, dass sie die Quereinsteiger und Außenseiter braucht, um überlebensfähig zu bleiben. Die durchgeplanten Blockbuster sind in den vergangenen Jahren keine Gelddruckmaschinen mehr gewesen, die Zuschauerzahlen sind bestenfalls stabil. […] Die Idee, ein Dutzend Riesenfilme könnte das gesamte Publikum binden, war schlichtweg falsch."
Die WELT indessen seufzte nach der Oscar-Verleihung: "Ob Leonardo DiCaprio wohl je den Preis bekommt?“
Schon viele Preise hat die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff erhalten – ihrer Toleranz ist das indessen nicht zugute gekommen.
Alle Feuilletons diskutierten Lewitscharoffs "Dresdner Rede", in der sie – unter anderen – Menschen diskriminiert hatte, deren Geburt eine Zeugung im Reagenzglas vorausging…
"Zweifelhafte Geschöpfe" seien das, "Halbwesen", "halb Mensch, halb künstliches Weiß-nicht-was".
"Dies ist kein Spaß, kein literarisches Spiel [warnte Sandra Kegel in der FAZ]. Sibylle Lewitscharoff kann schwerlich für sich reklamieren, dass sie hier in der Sprache der Engel oder mit Tieren redet, wie sie das in ihren Büchern zu tun pflegt. Wo es ihr so offensichtlich ernst ist mit ihrer Abscheu, mit der von Ressentiments getriebenen Ausgrenzung menschlichen Lebens, da verdient sie eine Antwort auf der Höhe der Gegenwart."
Und die bekam Lewitscharoff.
"'Deine Widerwärtigkeitspolemik überschreitet die Grenze‘, schimpfte John von Düffel in der WELT.
Einer Exkommunikation glich der Einwurf von Dirk Pilz in der BERLINER ZEITUNG :
"Lewitscharoffs Behauptung, sie stehe für ein christliches Menschenbild, ist schlicht Unsinn. Entweder absichtsvoll ahnungslos oder vom Fehlen jeglichen theologischen Sachverstands gezeichnet."
Die persönlichste Attacke platzierte Judith Schalansky in der SZ:
"Als Kollegin und als lesbisch lebende, schwangere Frau bin ich von Sibylle Lewitscharoffs Äußerungen geschockt, ist mein Kind doch auf eine Weise entstanden, die sie als ‚abartig‘, ‚widerwärtig‘, ‚abscheulich‘ verteufelt: Ein Frauenpaar und ein schwuler Mann gründen eine Familie, freuen sich auf ein Kind, um das sie sich gemeinsam kümmern wollen."
Ob sich Lewitscharoff mit ihrem Moderne-Ekel in Russland wohler fühlen würde als hier?
Es sei dahingestellt. Fest steht, Russland und Wladimir Putin wurden anlässlich der Ukraine- und Krim-Krise zum Dauer-Thema.
Die Wochenzeitung DIE ZEIT sprach mit dem russischen Philosophen Michail Ryklin – von dem Peter Kümmel wissen wollte:
"In der russischen Öffentlichkeit gibt es starke, von der Regierung geschürte Vorbehalte gegen den Westen, das verweichlichte, liberal ‚Homo-Europa‘. Wie sehr ist Putins Handeln sexuell konnotiert? Geht es darum, keinesfalls ein ‚Homo‘ zu sein?"
Antwort Ryklin:
"Putin ist ein physisch absolut fitter Mann; er taucht, er reitet, er fliegt mit den Kranichen – ein Supermann. Und dann gibt er sich diese Blöße in der armen Ukraine. Er erträgt es nicht, als schwacher Mann dazustehen. Er erlebt gerade einen wirklich schicksalhaften Moment."
Und das, so Ryklin in der ZEIT, heißt mit Blick auf den Krim-Konflikt nichts Gutes.
"Ich hoffe, […] dass es nicht zum Krieg kommen wird. Aber ich glaube, weil ich Putin kenne, dass diese Hoffnung nicht in Erfüllung gehen wird. […] Es kann alles geschehen, bis hin zum Dritten Weltkrieg. Wenn sich die Türkei einmischt, als Nato-Mitglied. Und die Ukraine hat eine große Armee, sie ist ausgerüstet mit sowjetischen Waffen. Alles ist möglich."
Trotzdem soll dieser Sonntag sonnig werden, liebe Hörer… Und was könnte man da tun?
Die SZ empfiehlt in ihrer Wochenendausgabe philosophisch hintersinnig: "Großes tun und lassen können".
Seitenlang um Sex geht’s hingegen in der taz. Sie rät allen zum "Sich anfassen."