Aus den Feuilletons

Das wichtigste Problem der Menschheit

Ein Sex-Shop der Beate Uhse AG in Hannover.
Ein Sex-Shop der Beate Uhse AG in Hannover. © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Von Burkhard Müller-Ulrich · 15.12.2017
Die "Neue Zürcher Zeitung" ist verunsichert über #Metoo und beklagt sich über fehlenden Raum für Improvisation beim Spiel der Liebe, während sich "Die Welt" bei Beate Uhse für ihr Lebenswerk bedankt - bei den Feuilletons geht es heute um Sex.
Die Erektion, so schrieb die kanadische Autorin Nancy Huston kürzlich in "Le Monde", sei das wichtigste Problem der Menschheit. Natürlich feministisch, also negativ gemeint.
Der französische Essayist Pascal Bruckner zitiert diese Äußerung jetzt in einem Text der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, weil ihm angesichts der aktuellen Belästigungs-, Vergewaltigungs- und MeToo-Debatte ein bißchen unwohl wird.
"Es gibt keinen Raum mehr für Improvisation", klagt er. "Das Spiel der Liebe und des erotischen Begehrens kann sich gar nicht mehr frei entfalten, wenn alles bis ins Detail festgelegt ist."

Präkoitales Einverständnis auf der Smartphone-App

In der Tat wird ja jetzt jede zwischenmenschliche Begegnung viel formaler; in den USA halten Paare ihr präkoitales Einverständnis jetzt tunlichst auf der "Yes to Sex"-App ihres Smartphones fest. Oder sagen wir mal: die Typen mit dem menschheitlichen Erektionsproblem tun es, damit frau ihnen hinterher nichts anhängen kann.
Bruckner hält das jedoch nicht für praktikabel, weil Erotik doch wahrhaftig anders funktioniert. Lust erwächst auch aus Zweideutigkeit und Unsicherheit. Man ist sich "seiner Wünsche oft gar nicht sicher, bevor man sie umgesetzt hat", schreibt Bruckner und fährt fort:
"Auf jemanden, den man liebt, zu bestehen, auf ihn zu warten, ihn mit zärtlicher Aufmerksamkeit zu umgarnen – das ist keine Belästigung, sondern liebende Beharrlichkeit. Zu verlangen, daß jeder im voraus genau plant, was er tut, heißt, vom naiven Glauben beherrscht zu sein, man sei sich über sein Verlangen jederzeit im Klaren und könne es programmieren wie einen Computer."

Danksagung an Beate Uhse

Ein bißchen von dieser Vorstellung steckt wohl in dem Ausdruck "Ehehygiene", der mit dem Geschäftserfolg von Beate Uhse verknüpft ist. Sechzehn Jahre nach dem Tod der Gründerin musste ihr Unternehmen jetzt Insolvenz anmelden. In der WELT setzt Kathrin Spoerr der Firma ein kleines Denkmal, oder besser: ein Dankmal, denn sie sagt danke für Reizwäsche und Dildos und
"danke für die radikale Propagierung des Wunsches nach folgenlosem Sex."
Ja, Folgenlosigkeit ist auch etwas, das sich die Weinsteins dieser Welt zur Zeit sehr wünschen. Und nicht nur die Erektionsinhaber und Herrscher über die Casting-Couches, sondern auch die Kinderseelenzerstörer in zahlreichen Kirchenämtern. Bei den Regensburger Domspatzen wurden von 1945 bis in die 1970er Jahre mehr als 500 Kinder verprügelt, gedemütigt oder sexuell mißbraucht, wie ein Untersuchungsbericht kürzlich feststellte.

Über die Notwendigkeit von Knabenchören

"Inzwischen", so schreibt Helmut Mauró in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, "stellen sich selbst Musikliebhaber die Frage: Brauchen wir Knabenchöre überhaupt noch? Kann man sie nicht durch andere Ensembles ersetzen, die weniger anfällig sind für Gewaltstrukturen?"
Der Autor antwortet klipp und klar: "Gesellschaftlich gesehen: ja, musikästhetisch: nein" und er erklärt, worin die Besonderheit dieser tausendjährigen mitteleuropäischen Tradition des Knabengesangs besteht und worauf sie beruht. Zum Beispiel darauf,
"dass Jungen einen etwas größeren Kehlkopf haben, einen höheren Muskeltonus und damit eine kräftigere und obertonreichere Stimme, auch wenn Mädchen körperlich weiter entwickelt sind."
Vielleicht, so könnte man an dieser Stelle mal mutmaßen, ist die Erektion doch nicht allein das wichtigste Problem der Menschheit.
Kunst und Politik sind es bekanntlich auch, aber in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? "Was ist der Künstler in der Welt von heute?" fragt der polnische Autor und Theaterregisseur Antoni Libera in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift "Tumult", und erklärt, daß Künstler nur noch politischen oder kommerziellen Zwecken dienen und dienen wollen. Simon Strauss stimmt ihm in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG auf eine geradezu rührend betrübte Weise im Konjunktiv zu:
"Wenn wirklich all unsere Theater, Museen, Literaturhäuser, Opern, Kinos, Akademien, Kunstzeitschriften, Schlagerparaden, Lyrikkabinette, Architekturblogs und Tanzfestivals sich entweder dem Geld oder der Tagespolitik verschrieben hätten, ihre Programme entweder zum Gefallen des einen oder der anderen konzipieren würden, dann lebten wir in düsteren Zeiten."
Tja, lieber FAZ-Autor. Willkommen in der Wirklichkeit! Ob Berlinale, Theater oder Documenta: Es geht um Trump und Klimawandel, um Flüchtlinge und Feminismus, aber von Ästhetik keine Spur.
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