Aus den Feuilletons

Das Rennen um die Bären

Begehrter Filmpreis: der Goldene Bär
Begehrter Filmpreis: der Goldene Bär © picture alliance / dpa / Sven Hoppe
von Arno Orzessek · 23.02.2018
Die Berlinale ist Thema Nummer eins in den Feuilletons. Die WELT ist von der formalen und inhaltlichen Qualität der deutschen Beiträge überzeugt. Die Süddeutsche findet Thomas Stubers "In den Gängen" "irre nostalgisch". Im Focus der taz steht Deniz Yücel.
Die TAGESZEITUNG feiert einen umstrittenen Autor. Einen Autor nämlich, der sich unter der Überschrift "Super: Deutschland schafft sich ab" ausgelassen über das Aussterben der Ostdeutschen gefreut…
Und die General-These vertreten hat: "Mit den Deutschen gehen nur Dinge verloren, die keiner vermissen wird."
Der gefeierte Autor – viele von Ihnen, liebe Hörer, werden es erkannt haben – heißt Denis Yücel…
Und der Text, in dem Yücel 2011 seine Freude über womöglich aussterbende Ostdeutsche kundgetan hat, war eine Reaktion auf Thilo Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab.
Satire oder keine Satire – darüber ließ und lässt sich mit Blick auf Yücel streiten.
Aber so oder so freut es uns, ausgerechnet in der diskurspolizeilich bisweilen überengagierten TAZ zu lesen, dass nicht immer jede Silbe politisch korrekt sein muss.
Wörtlich hält der TAZ-Autor Daniel Schulz fest:
"Während ich das hier schreibe, lässt die AfD im Bundestag über Deniz‘ Texte reden. Diese Partei hat dem Deutschland Namen und Gesicht gegeben, das Deniz so gerne untergehen sehen wollte. Es gibt ein besseres. Ein Deutschland, in dem sich mehr Menschen mehr herausnehmen können. Eines, in dem nicht alles einen vorgeschriebenen Platz hat, wie in Großmutters Setzkasten."
Liebe TAZ, diesen Satz merken wir uns: Dass du ein Deutschland als "besseres" titulierst, "in dem sich mehr Menschen mehr herausnehmen können."

Straffrei, aber geächtet: der Schwangerschaftsabbruch

Laut §219 Strafgesetzbuch dürfen sich Ärzte eines nicht herausnehmen – nämlich für Abtreibungen werben.
Was allerdings Werbung und was Information ist, ist in hohem Maße Interpretations- und Ansichtssache.
Die mittlerweile deutschlandweit bekannte Ärztin Kristina Hänel wurde im vergangenen November verurteilt, weil sie auf ihrer Website Schwangerschaftsabbrüche schlicht angeboten hatte.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG nimmt Julia Bähr nun jene aufs Korn, die sich für das Werbe- und damit de facto für ein Informations-Verbot stark machen, darunter die CDU-Bundestagsabgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker.
"Es geht nicht darum, ob Ärzte über Schwangerschaftsabbrüche informieren dürfen. Es geht darum, ob man Frauen, die abtreiben wollen, nicht doch bestrafen darf, obwohl das Gesetz den Vorgang als straffrei ausweist. Indem man dafür sorgt, dass diese Frauen sich noch beim Arzt so elend und unsicher wie möglich fühlen"…
Vermutet die FAZ-Autorin Julia Bähr unter dem Titel "Straffrei, aber geächtet".

Ostdeutscher Großmarkt als Schauplatz

Feuilleton-Thema Nr. 1 ist indessen die Berlinale.
"Das Rennen um den Goldenen Bären ist weit offen", betont Hans-Georg Rodek in der Tageszeitung DIE WELT… Und bringt uns ins Grübeln.
Kann denn ein Rennen "weit" offen sein? Müsste es dann nicht nach der Logik der Sprache auch "eng" offen sein können?
Offen ist das Rennen laut WELT-Autor Rodek nicht zuletzt, weil die deutschen Beiträge – Christian Petzolds "Transit", Emily Atefs "3 Tage in Quiberon", Philip Grönings "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" und Thomas Stubers "In den Gängen" – von "erheblicher formaler und inhaltlicher Qualität" sind.
"In den Gängen" spielt in den Lagerhallen eines ostdeutschen Großmarkts und feiert die Gemeinschaft der Angestellten. Und das gefällt auch der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.
Tobias Kniebe findet Stubers Film "irre nostalgisch" – und fragt sich, warum.
"Man braucht eine Weile, bis man drauf kommt […] [so Kniebe]: Es gibt hier niemanden mit Migrationshintergrund […]. So hat die Selbstgenügsamkeit dieser Welt und dieser Truppe etwas aus der Zeit gefallenes, das zum Sterben verurteilt ist."
Die BERLINER ZEITUNG sieht dagegen das Praktische:
"Wer weiß, wozu es mal gut ist. Die Darsteller von ‚In den Gängen‘ haben jetzt einen Gabelstaplerschein."
Das war’s. Sollten Sie mit unserer Presseschau heute unzufrieden sein – ertragen Sie es bitte mit Fassung! Ganz zurecht titelt ja die TAZ:
"Man ist schließlich nicht jeden Tag happy."
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