Aus den Feuilletons

Das Flachwasser des Lebens

Von Arno Orzessek · 09.12.2017
Moderne Zeiten machen manches einfacher: Vor der Erfindung des Smartphones musste zum Telefonieren eine Telefonzelle aufgesucht werden. Die braucht heute keiner mehr. Vermisst wird sie trotzdem - zum Beispiel von der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.
Vielleicht hört ihr es zum ersten Mal, liebe junge Leute: Aber die Weltgeschichte begann nicht mit der Erfindung des Smartphones, sondern bereits vorher.
Und damals, in der Vorzeit, standen überall in der westlichen Zivilisation Telefonzellen herum.
Klar, der Name verheißt nichts Gutes!
Und wenn ihr googelt, dann seht ihr auf den Bildern: Man konnte sich die Zellen beim besten Willen nicht ans Ohr halten – aber trotzdem zum Telefonieren gebrauchen!

Ein Hörer, so groß wie sechs Smartphones

Denn drinnen – stellt euch die Duschkabine eines Campingbusses vor –, guckte ein Kabel aus ‘nem Wandsafe. Und am Kabel hing ein Hörer, so groß wie sechs eingeschmolzene Smartphones.
Ja, es war irre: Diese Telefonzellen gingen nicht mit dir, sondern du gingst zu ihnen. Mobil musste der sein, der in dem Zellen-Phone telefonieren wollte.
Klingt komplett falsch herum – war aber so!
Und jetzt kommt’s: Obwohl noch Restexemplare existieren, vermissen manche Menschen diese immobilen Telefonzellen ganz doll.
Einer von ihnen ist Roman Bucheli. Er schrieb in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG:
"Ich kann mich kaum daran erinnern, je in einer Telefonzelle ein belangloses Gespräch geführt zu haben. Fast möchte ich behaupten, ich erinnere mich an jedes einzelne Gespräch, so viele es auch waren. Häufig waren es intimste Geständnisse, manchmal fürchterliche Minuten, gar Stunden des Stotterns und der schrecklichsten Zerknirschung, gelegentlich auch nur inneres, fast stummes Zittern (…). Das bevorstehende Gespräch machte mir die Zunge schwer, gelöst wurde sie von der Gewissheit, dass ich mich in dieser Kabine, die schon jedes bittere Schluchzen und jedes stille Jauchzen gehört hatte, meiner Gefühle nicht zu schämen brauchte."
Okay, liebe junge Leute, soweit der NZZ-Autor Bucheli.
Ihr habt’s kapiert: Telefonzellenkommunikation war eine krasse Zumutung. So existenziell und intim, so dramatisch und bedeutungsschwanger!
Wieviel leichter es sich doch heute durchs Flachwasser des Lebens whatsappen lässt!

Durchs Flachwasser des Lebens whatsappen

So! Nun wenden wir uns wieder ans Feuilleton-Publikum aller Altersklassen.
Unter dem Titel "Endstation Seh-Sucht"…
Tja, doch noch mal eine kurze Info für Jüngere: 'Endstation Seh-Sucht' ist eine im Grunde nicht allzu komplizierte Anspielung auf den nur um einen Buchstaben kürzeren Dramen-Namen "Endstation Sehnsucht", einem Theater-Stück von Tennessee Williams, verfilmt mit Marlon Brando, der wiederum damals, also in der Telefonzellen -Ära, eine Art, sagen wir, XXL-Ryan Gosling …
Aber nee, das führt wohl zu weit!
Unter dem Titel "Endstation Seh-Sucht" stellte Adrian Lobe in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG den Kulturwissenschaftler Randolph Lewis und dessen noch nicht übersetztes Werk "Under Surveillance: Being Watched in Modern America" vor.
Lewis, so Lobe…
"spricht in Anlehnung an Benthams Überwachungs-'Panopticon' (Leute, googelt das, wenn Ihr’s nicht kennt, ist ziemlich grauenhaft; Lewis spricht also…) von einem 'Funopticon', einer Überwachung, die Spaß macht. Lewis führt das Funopticon als Konzept für die zunehmend 'spielerische Überwachungskultur' im 21. Jahrhundert ein: 'Selbst wenn sich Überwachung (so Lewis wörtlich) auf eine Art und Weise in unsere Körper schleicht, die viele Leute als demütigend und ausbeuterisch empfinden, tut sie gleichsam etwas anderes: Sie operiert in einer Weise, die sich nicht immer unterdrückend und schwer anfühlt, sondern wie Freude, Bequemlichkeit, Wahlfreiheit und Gemeinschaft. Mit anderen Worten: Personelle Entwürdigung existiert zunehmend in einer Dialektik mit neuen Modi der Verzauberung, Vernetzung und Unterhaltung, die die unheilvolle Logik des Panopticons (…) herausfordert.'"
Randolph Lewis in einem SZ-Artikel von Adrian Lobe.

Krieg gegen die Wahrheit

Zu den Schattenseiten der Gegenwart wird man auch den "Krieg gegen die Wahrheit" zählen müssen, über den die Wochenzeitung DIE ZEIT berichtete.
"Rechtspopulisten haben Fake News nicht erfunden. Schon seit Jahrzehnten steuern Energiekonzerne und konservative Medien eine Desinformationskampagne – um Zweifel am Klimawandel zu säen",
konstatierten die ZEIT-Autoren Maximilian Probst und Daniel Pelletier und listeten auch fein säuberlich die Abermillionen Dollar auf, die Shell, Exxon Mobil & Co. für Lobbyarbeit gegen die Klimagesetzgebung verausgaben.
Aber Probst und Pelletier sahen auch Licht am Horizont:
"Der (…) wichtigste Schritt (…) bleibt: weltweit die Energiewende vorantreiben. Sie dreht der fossilen Industrie, den Rechtsnationalisten und Klimaleugnern den Geldhahn zu. Dies könnte schneller gehen, als es den alten Eliten lieb sein kann. Einen Nachruf auf das fossile Zeitalter und seine letzte Blüte, den fossil geschmierten Informationskrieg, sollten seriöse Medienhäuser schon mal in Auftrag geben."
Zukunftsmusik in der ZEIT.
Wohl kaum extra in Auftrag geben müssen Medienhäuser augenblicklich Beiträge über Belästigung, Belästiger und Belästigungsopfer…
Die Artikelflut dauerte auch in der letzten Woche an, zumal mit dem New Yorker Star-Dirigenten James Levine ein neuer Promi unter dringendem Verdacht steht.

Böse Männer, gute Künstler

Unter dem Titel "Böse Männer, Gute Künstler" erklärte Boris Pofalla in der Tageszeitung DIE WELT, warum man heute selbst den Besten nichts durchgehen lässt.
"In einer Gesellschaft, die eine einzige Rückkopplungsschleife ist, in der jeder kommentiert, knipst, bloggt und labert, in einer solchen Gesellschaft kann es keine Genies und keine gesetzlos-anarchistische 'Interzone' mehr geben (…). Niemand soll es besser haben als man selbst, jeder wird festgenagelt. Es ist ja auch eine gigantische Provokation, dass sich manche Menschen mehr herausnehmen als andere, eine unerhörte, andauernde Kränkung der Normalen, wenn Künstler mit Dingen davonkommen, die kaputt sind, blödsinnig, genial oder alles zusammen."
Ganz in diesem Sinne titelte wiederum die ZEIT: "Genie entschuldigt nichts." –
Falls Sie, liebe Hörer, noch nicht wissen, womit Sie diesen Sonntag krönen sollen – eine Überschrift in der TAGESZEITUNG empfahl:
"Kuscheln im Kollektiv."