Aus dem Nachlass des Wortkünstlers

18.05.2009
Wolfgang Hilbig war einer der bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. Nach seinem Tod 2007 brachte der Fischer Verlag den ersten Band der Hilbig-Werkausgabe heraus. Nun ist der zweite Band mit zum Teil bislang unveröffentlichten Erzählungen und Kurzprosa erschienen.
Wolfgang Hilbig war im wahrsten Sinne des Wortes ein Schriftsteller. Schreibend arbeitete er sich in jene im Abseits gelegenen Gebiete vor und verortete seine Figuren in Heizungskellern, Abdeckereien und Müllhalden. Was Hilbig bei seinen Erkundungen entdeckte, übertrug er in Schrift. Wer mit ihm darüber sprechen wollte, machte die Erfahrung, dass der Dichter schwieg: Wolfgang Hilbig sprach wenig. Was er zu sagen hatte, vertraute er dem Papier an. Als er am 2. Juni 2007 starb, war denen, die Hilbigs Texte kannten, bewusst, dass die deutschsprachige Gegenwartsliteratur einen ihrer bedeutendsten Dichter verloren hatte. Doch trotzdem er als "wortmächtiger" und "sprachgewaltiger" Autor galt, blieb er für das Lesepublikum ein weitgehend Unbekannter. Hilbig konnte man nicht über die Medien kennenlernen, man muss(te) ihn lesen.

Was Wolfgang Hilbig geschrieben hat, kann man nun in der Werkausgabe entdecken, die vom S. Fischer Verlag herausgegeben wird. Im vergangenen Jahr erschien der erste Band mit Gedichten. Nun liegt als zweiter der auf insgesamt sieben Bände geplanten Ausgabe der Band mit Erzählungen und Kurzprosa vor. Während sich in dem Lyrik-Band 150 bis dahin unveröffentlichte Gedichte fanden, hält auch der Erzählungsband Überraschungen bereit. Neben bekannten Texten wie "Der Heizer", "Die Arbeit an den Öfen" oder "Die elfte These über Feuerbach", werden in dem Band erstmals 13 Texte aus dem Nachlass publiziert. Darunter auch der letzte, Fragment gebliebene Text "Die Nacht am Ende der Straße", an dem Wolfgang Hilbig seit 2005 gearbeitet hat. Es handelt sich um die Geschichte des alt gewordenen Schriftstellers H., der es kaum noch in seine Wohnung schafft, wenn er sich aus der nahegelegenen Kneipe auf den Weg nach Hause macht. Vieles an der Beschreibung dieses H. erinnert an Hilbig, denn auch H. ist Schriftsteller. Seit Jahren hat dieser H. keine Seite mehr zu Papier gebracht. Nun, da seine Kräfte versiegen, fragt er sich, ob es stimmt, was er in der Öffentlichkeit immer behauptet hat: Er muss schreiben! An dem Muss kommen ihm Zweifel, denn es scheint ihm eher so, dass er schreiben wollte. Nun aber will er, ohne es zu können.

Hilbig beschreibt in dieser Erzählung einen Schriftsteller, der am Ende ist, und der weiß, wie es um ihn steht. Die Bilanz, die er zieht ist bitter. Was das Feuilleton auch lobend über seine Bücher gesagt hat, er weiß es besser. H. weist jeden Erfolg von sich. Es ist keine Koketterie, wenn er am Schluss der Meinung ist, dass er nichts mehr zu sagen hat. Der Wortkünstler ist von der Wirklichkeit eingeholt worden, einer Wirklichkeit, die ihn verstummen ließ. Diese stumm machende Realität lässt sich an einem Datum festmachen: Es ist der 11. September 2001. Der letzte Satz in der Erzählung lautet: "H. fand keine anderen Sätze." Seit diesem Tag sagen die Medien, was er hätte sagen wollen. Anders als alle Aussagen, die H. trifft, muss Hilbigs Werk weiterhin gelesen werden! Die erste Erzählung in dem Band, die "Aufbrüche" heißt, markiert für dieses Vorhaben einen Anfang. Wer sich darauf einlässt, und sich den neuen Band vornimmt, der wird reich belohnt werden, denn Hilbig entführt seine Leser in bizarre Sprachgebiete von einzigartiger Schönheit.

Rezensiert von Michael Opitz

Wolfgang Hilbig: Erzählungen und Kurzprosa
Mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller
Herausgegeben von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009
767 Seiten, 26,95 Euro