Aus dem Herzen des Kapitalismus

Rezensiert von Melanie Ahlemeier · 19.09.2010
Es war der größte Bankrott der Weltgeschichte: Vor fast zwei Jahren ging die Lehman Brothers Bank, Schwergewicht der Wall Street, pleite. Mittendrin saß der leitende Mitarbeiter Lawrence McDonald, der nun einen teils sehr authentischen, teils etwas schleppenden "Insider-Bericht" liefert.
Lehman Brothers ging pleite, weil der damalige US-Finanzminister Paulson es am Ende so wollte. Und weil Mahner und Warner aus den eigenen Reihen der US-Investmentbank gnadenlos missachtet wurden. Wieder und wieder. Von ganz oben. Von den Entscheidern. Vor allem von Bank-Chef Richard Fuld. Was für eine Blindheit!

Lawrence McDonald bringt als leitender Mitarbeiter die besten Voraussetzungen mit, um ein Buch zu schreiben. Entstanden ist ein "Insider-Bericht", der sich teilweise allerdings etwas schleppend, weil langatmig liest, teilweise aber auch kleine hübsche Anekdoten enthält.

Wie zum Beispiel die Sequenzen über Boss Fuld. "König Richard" residierte nebst Badetrakt in der 30. Etage des Lehman-Gebäudes. Er ist der Mann, der zwanghaft Hedgefonds aufkaufte und aggressiv auf Widerstand reagierte. Fuld, in dessen Büro ein ausgestopfter Gorilla stand. Daher auch sein Spitzname: "Gorilla"! McDonald beschreibt detailreich, welchen Einfluss Fuld als aktiver Chef hatte, wie er kritische Stimmen ob der mehr als zweifelhaften Geschäftemacherei nicht nur in den Wind schlug, sondern geflissentlich ignorierte. Und wie nicht nur Fuld, sondern auch sein Mentor die Bodenhaftung verlor.

"Sie hingen an Macht und Einfluss, wie sie am Leben hingen, sie waren unersättlich. Fuld und Glucksman liebten Geld, eigenes Geld, das man in die Tasche stopfen kann und zwar Millionen und Abermillionen. Das schnelle Geld reizte die beiden, doch sie brauchten auch den Status, der mit ihrer Stellung bei Lehman einherging."

Eitelkeit? Vielleicht. Größenwahn? Mit Sicherheit.

Doch McDonald erzählt nicht nur die Lehman-Fuld-Geschichte, sondern auch seine eigene. Über viele, viele Buchseiten - und das kann ganz schön anstrengend werden. Weil der Autor zu großer Selbstüberschätzung neigt. Seine ständigen Übertreibungen nerven nicht nur, sie machen Dead Bank Walking teilweise auch unglaubwürdig. Das ist schade. McDonald gibt den Allwissenden, er ist der Held, und findet für sich selbst fast nur Lob.

"Ich spürte, dass ich einen Riecher dafür hatte, frühzeitig kommende Katastrophen zu erkennen. Seit ich den Zusammenbruch des neuen Marktes aus nächster Nähe erlebt hatte, war ich auf der Hut. Ein ewiger Bär, immer auf der Suche nach einem lukrativen Leerverkauf, wollte ich eigentlich nicht sein. Ich glaube jedoch fest daran, dass man richtig Geld verdienen kann, wenn eine riesige Firma fällt. Und hier kam die Wandelanleihe ins Spiel, meine Spezialität, mein Erfahrungsbereich."

Streckenweise liest sich das Buch gar wie ein modernes Geldmärchen: Alles, was McDonald anfasst, gelingt. Er zieht mit ConvertBond.com eine eigene Handelsplattform aus dem Nichts hoch. Er "sieht" die Zukunft. Das Wirtschaftsmagazin "Forbes" zeichnet ihn als "The Best of the Web" aus. Hallo, geht's auch eine Nummer kleiner? Offenbar nicht.

Immer und immer wieder spricht McDonald vom Heiligen Gral - und meint die erste Liga. Die Wall Street! Da will er hin - und er schafft es. Über den Umweg Morgan Stanley landet McDonald bei Lehman, weil sein Mentor ihn gerufen hat. Willkommen auf Seite 100 des Buches!

Der "Insider-Bericht" braucht lange, um spannend zu werden. Statt pointierter Lehman-Beschreibungen erfährt der Leser viel Grundsätzliches über die Finanzkrise. Die US-Bankenpleiten werden Stück für Stück aufgedröselt und analysiert. McDonald erklärt wirklich alles: die Hypothekenverkäufer; den Irrsinn der CDOs, den Boom am US-Häusermarkt. Er liefert das Basisseminar "Wie entsteht eine Finanzkrise" - manchmal ist das ein bisschen viel des Guten.

Statt mehr als 400 Seiten hätten auf das Wesentliche komprimierte 200 Seiten gereicht. Ein knallharter Faktenbericht ist das nicht. Noch mehr prägnante Infos aus dem Lehman-Innenleben, noch mehr brisante Beschreibungen der internen Auseinandersetzungen wären hübsch gewesen.

Aber: Das Buch hat auch Stärken, vor allem im letzten Viertel. Hier wirkt es besonders authentisch. Details und Dialoge aus dem Herzen des Kapitalismus.

"Plötzlich machte sich Angst in unserem Konferenzraum breit" und "Wir spürten, dass sich ein weltweiter Käuferstreik anbahnte", schreibt McDonald, und läutet damit die heiße Lehman-Phase ein. Als zwei Fonds von Bear Stearns in Schieflage geraten, ist die Krise endgültig da.

"Lehman steckte bis über beide Ohren in Schulden und in Anleihen, für die Käufer fehlten. Die wahnwitzige Geschäftemacherei, an der Private-Equity-Gesellschaften so lange Gefallen gefunden hatten, kam völlig zum Erliegen. Und an der Wall Street wurde allenthalben gemunkelt, dass Bear Stearns und Lehman in größten Schwierigkeiten steckten. Lehman hatte es immer geschafft, genügend Kapital in die Hände zu bekommen, um sich an seinen größten Übernahmedeals zu beteiligen. Ausschlaggebend dabei war bisher gewesen, sie rasch genug zu verbriefen und die Hochzinsanleihen und Leveraged Loans zu verkaufen, die die Übernahmen ermöglichen würden.

Jetzt aber bestand das Problem darin, dass es an Käufern fehlte, vor allem wegen der Kreditklemme unter den Banken. Die großen Investmentfonds beteiligten sich nicht mehr an diesem Spiel, und das System war mit Verkäufern verstopft. Damit blieben unverkaufte Schuldverschreibungen in Milliardenhöhe in den Büchern von Lehman und anderen Banken.


McDonald bleibt nicht bis zum bitteren Lehman-Ende im September 2008, er wird rund sechs Monate vorher entlassen. Am 10. März - es ist ein Montag - ist seine Zeit abgelaufen. Und er hatte es irgendwie geahnt. Sein persönlicher Rückblick auf Lehman ist mit das Stärkste, was dieses Buch zu bieten hat. Obwohl er den Laden verfluchte - im Moment des Abschieds wider Willen ist ihm zum Heulen.

"Ich stieg in ein Taxi, das sich gleich in den Verkehr einfädelte. Mir war sehr elend zumute. Ich blickte zurück zu dem Gebäude, Traurigkeit überkam mich. Lehman Brothers - dort hatte ich den Heiligen Gral erreicht, dort hatte ich es auf dem Parkett mit den Besten der Branche ausgefochten. Darauf war ich stolz. Ich war stolz auf die Leute, die ich kennengelernt hatte. Und ich war stolz auf unsere vielen Siege. Jede Minute, die ich dort verbracht hatte, war kostbar gewesen. Ich war stolz auf meine Erfolge, und beim Gedanken daran kam mir dieser schlimme Tag nicht so schlimm vor. Dort war ich gewesen, dort hatte ich es bis nach oben geschafft, und der Beweis dafür war der Stapel Lehman-Aktien, den ich besaß. Ich hatte keine Geldsorgen, und ich hatte viele Freunde.

Doch jetzt war es vorbei mit all meinen Hoffnungen und Träumen, für immer dahin. Tränen liefen mir über das Gesicht, als der Taxifahrer mich vor meinem Haus absetzte. Mich und meine beiden Kisten voller Traurigkeit. Was ich gegenüber der Firma empfand, werde ich wohl niemals erklären können. Doch sollte mich eines Tages jemand fragen, wie lange ich geblieben wäre, wenn ich Händler bei Lehman Brothers hätte bleiben können, wüsste ich die Antwort: tausend Jahre."


Am Ende zählt Lehman 660 Milliarden Dollar Schulden und Fuld weigert sich, die Insolvenz-Anwälte herbeizurufen. "Tatsächlich hatte niemand ein genaues Bild der Lage", schreibt McDonald. Und dann: Schluss! Aus! Vorbei! Die viertgrößte Investmentbank der Wall Street ist pleite - und verschwindet.

"In den frühen Morgenstunden, gegen zwei Uhr, stellte Lehman Brothers Insolvenzantrag nach Chapter 11. Die 158 Jahre alte Investmentbank war tot. Wir schrieben Montag, den 15. September des Jahres 2008. Es war der größte Bankrott der Weltgeschichte."

Lawrence G. McDonald: Dead Bank Walking. Wie Lehman Brothers zusammenbrach
Hoffman und Campe, Hamburg 2010
Buchcover: Lawrence G. McDonald - Dead Bank Walking
Buchcover: Lawrence G. McDonald - Dead Bank Walking© Hoffman und Campe