Augenzeugenbericht

Opfergemeinschaft sowjetischer Willkür

Zeichnungen, die Stalin und Hitler zeigen, werden auf einem Flohmarkt in Ljubljana angeboten.
Die deutsch-sowjetische Freundschaft zwischen Hitler und Stalin wollte im Kalten Krieg niemand in Erinnerung rufen. © picture alliance / dpa / Bernd Weissbrod
Von Martin Sander · 04.02.2014
Das Elend in den Straflagern Stalins beschreibt Julius Margolin als Augenzeuge. Vor allem seine Darstellung der perfekten Zusammenarbeit zwischen Hitlerdeutschland und Stalins Sowjetunion verschlägt dem Leser den Atem.
Sommer 1940 in Pinsk, einer kleinen Stadt im Südwesten des heutigen Weißrundlands: Sowjetische Geheimpolizisten verladen eine Gruppe von Häftlingen auf die Pritsche eines Lasters. Sofort klappen sie die grünen Seitenwände des Wagens hoch. Die Gefangenen müssen auf dem Boden liegen. Von außen sieht man nur noch einen Wachsoldaten mit Gewehr. Für den Häftling Julius Margolin ist die Szene ein Symbol. Hinter den grünen Wänden des LKWs, schreibt er, verbargen die stalinistischen Machthaber die Wahrheit.
600 Seiten umfasst der Augenzeugenbericht, den Margolin nach Ende des Zweiten Weltkriegs niederschrieb – am Ende einer fünfjährigen Irrfahrt durch Stalins Lager. Nun ist sein Buch unter dem Titel "Reise in das Land der Lager“ erstmals ungekürzt und neu übersetzt bei Suhrkamp erschienen. Das Lagerelend im hohen Norden Russland ist das Grundthema. Margolin leistet Zwangsarbeit als Holzfäller, Wasserträger und assistiert schreibunkundigen Verwaltern. Er schildert das Zusammenleben der Häftlinge zwischen brutaler Gewalt und feinfühliger Unterstützung, vor allem den verzweifelten Kampf aller gegen den Tod durch Hunger und Auszehrung. Die Sprache ist schlicht, der Text durchbrochen von historischen Exkursen und politischen Kommentaren.
Als polnischer Jude und "Westler" war Margolin unbequem
Zweifelsohne: Stalins Lagerwelt wurde von vielen bedeutenden Autoren überliefert. Doch Margolins Buchs folgt einer besonderen Perspektive. Es ist der Blickwinkel eines in vielen Kulturen beheimateten Europäers. 1900 in Pinsk – damals Zarenreich – kam Julius Margolin als Kind jüdischer Eltern zur Welt. 1918, als Polen wiedererstand, erhielt er die polnische Staatsbürgerschaft. Er studierte Philosophie in Berlin und wanderte mit Frau und Kind 1936 nach Palästina aus. Beim Überfall Hitlers auf Polen hielt er sich gerade allein in Lodz auf. Wie viele Juden floh er in den Teil Polens, der von Stalin in Besitz genommen worden war. Das nunmehr sowjetische Gebiet durfte er nicht verlassen, aber als polnischer Staatsbürger, polnischer Jude und "Westler“ war er unbequem. Allein das führte zu seiner Lagerhaft.
Es ist vor allem der erste von vier Teilen des Buches, der einem noch heute den Atem verschlägt. Hier beschreibt der Autor die perfekte Zusammenarbeit zwischen Hitlerdeutschland und Stalins Sowjetunion in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs. Nicht nur in der Ausübung militärischer Macht, sondern auch in der antisemitischen und antipolnischen Propaganda. Margolin erzählt von Juden, die sich unter diesen Umständen zu einer Rückkehr in deutsches Besatzungsgebiet entschieden, und er beschreibt das angespannte Verhältnis zwischen Polen und Juden, das sich nach Kriegsausbruch in eine Gemeinschaft der Opfer sowjetischer Willkür wandelt.
Diese Passagen fielen bei der deutschen Erstausgabe des Buches 1965 fast vollständig unter den Tisch. Niemand wollte im Kalten Krieg die deutsch-sowjetische Freundschaft zwischen Hitler und Stalin in Erinnerung rufen. Mit der neuen vollständigen, reich kommentierten Ausgabe ist diese Verzerrung korrigiert worden. Margolins Augenzeugenbericht gibt das die ursprüngliche Spannung zurück.

Julius Margolin: Reise in das Land der Lager
Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Olga Radetzkaja
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
638 Seiten, 39,00 Euro