Aufgeklärte Religionskritik

17.07.2009
Christoph Martin Wieland ist einer der ganz großen Klassiker. Doch sein Hauptwerk ist weitgehend unbekannt: Nun ist "Agathodämon" aus dem Jahr 1799 im Insel Verlag neu herausgegeben worden.
Der 1799 erschienene Roman "Agathodämon" von Christoph Martin Wieland ist ein so tiefgründiges wie heiter-spielerisches Resümee der Religionskritik der Aufklärung. Der titelgebende Held – seinen griechischen Beinamen darf man mit "Guter Geist" übersetzen – ist an eine reale, allerdings nur in sagenhaften Überlieferungen bekannte Figur der Spätantike angelehnt: den pythagoreischen Wanderprediger Apollonius von Tyana. Er war ein Zeitgenosse von Jesus Christus, und er erzählt in Wielands Roman sein Leben im Alter von 96 Jahren, also am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus. In der biografischen Parallele zum Gründer der christlichen Religion liegt bereits eine der wichtigsten Pointen des Romans: Denn auch Agathodämon hat versucht, eine das ganze römische Imperium umfassende Glaubensgemeinschaft zu gründen, die der Verbesserung der Sitten in der Gesellschaft und der Moral in der Politik dienen sollte.

Dabei ist Agathodämon ungefähr so verfahren, wie es die Begründer von aufklärerischen Geheimbünden des 18. Jahrhunderts, etwa die Freimaurer, taten: Diese gründeten geheime Zirkel von Eingeweihten, die dann hohe Stellen im Staat anstreben sollten, um die Ideale ihrer Geheimbünde zur Weltverbesserung umzusetzen.

Solche Spiegelungen zwischen Antike und Gegenwart waren den Lesern Wielands durchaus geläufig.
Doch der uralte, zurückgezogen in einem Bergidyll lebende Agathodämon muss am Ende seines Lebens auch das Scheitern seiner Bemühungen erkennen. Seine elitäre Sekte wurde längst von der volkstümlichen neuen christlichen Religion überrundet, deren Aufstieg der spätantike Intellektuelle mit einer Mischung aus Bewunderung und Erschrecken analysiert. Jesus hatte, so sieht es Agathodämon, dieselben Ziele wie er: eine Ethik der Menschenliebe zu verwirklichen. Aber der Weg seiner Sekte war nicht aufklärerisch, sondern führte zu einem neuen religiösen Kult voller Wundergeschichten und Jenseitsglauben.

Der abgründige Witz von Wielands Buch besteht nun darin, dass dem weltweisen, an die Vernunft glaubenden Agathodämon beinahe dasselbe widerfahren wäre: Die ihn verehrenden Menschen machten ihn zu einem übernatürlich begabten, auch wundertätigen Wesen, einem Halbgott, eben einem Dämon. Da Agathodämon selbst das Objekt solchen Wunderglaubens wurde, kann er Fall für Fall die Entstehung der ihn selbst betreffenden Wundergeschichten rational erklären. So wendet er aufgeklärte Religionskritik erst einmal auf sich selber an. Erst dann zieht er die auch fürs 18. Jahrhundert noch brisante Nutzanwendung auf den Konkurrenten Jesus Christus: Alle dessen Wundertaten, einschließlich der Auferstehung lassen sich vernünftig erklären – er starb gar nicht am Kreuz, sondern überlebte diese Tortur ohnmächtig.

Aber Agathodämon bleibt bei dieser rationalistischen Deutung der Geschichte von Jesus Christus nicht stehen. Der alte Mann hat das Bedürfnis der Menschheit nach dem Glauben zu tief selbst erlebt, um nicht die Zukunft des Christentums als Kirche, in der die Magie zur Institution wird, vorherzusehen. Im letzten Abschnitt seines Romans entwickelt Wieland eine atemberaubende Philosophie der Kirchengeschichte: Die Kirche rettet als Institution die kulturellen Schätze der Antike für die barbarischen Völker. Dabei aber wird sie selbst zu einer irdischen Macht, also dem ähnlich, wogegen Jesus Christus ursprünglich antrat. Das setzt dann eine neue, diesmal erfolgreiche Aufklärung in Gang – den Vorgang, den Wieland für seine Zeit zusammenfasst, 1700 Jahre nach Christus und seinem Helden Agathodämon.

So schlägt dieser in bezaubernder idyllischer Umgebung angesiedelte Dialogroman einen großen historischen Bogen von antiker Philosophie zum Zeitalter der Vernunft – und nimmt dabei die Religion auf eben so kritische wie einfühlsame Weise mit hinein. Denn die Aufklärung will am Ende nichts anderes als die ursprünglichen Impulse des Christentums retten. Und all das leistet dieses wunderbar leicht und melodisch geschriebene Meisterwerk deutscher Sprache auf nur 270 Seiten. Und die soeben erschienene Neuausgabe bietet dem heutigen Leser in einem knappen Kommentar alle Wissenshintergründe, um diesem spannenden Gedankenexperiment mit Genuss zu folgen.

Besprochen von Gustav Seibt

Christoph Martin Wieland: Agathodämon
Roman
Herausgegeben von Jan Philipp Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009
308 Seiten, 34 Euro