Aufbruch statt Resignation

Von Klaus Heymach · 04.02.2013
Als sich das Kosovo vor fünf Jahren für von Serbien unabhängig erklärte, herrschte Aufbruchstimmung in der Hauptstadt Pristina. Der versprochene Aufschwung lässt allerdings auf sich warten. Doch viele junge Menschen reagieren mit Einfallsreichtum auf die Krise.
"Das ist für viele schwer. Ihnen bleibt nichts anderes, als das Land wieder zu verlassen. Und was macht die Regierung? Arbeitet nur für eigene Interessen. Dabei gibt es hier auch viel, worauf wir stolz sein können: Kunst, Musik, Festivals. Viele arbeiten hart daran, dieses Land voranzubringen. Die brauchen Unterstützung. Wir stehen doch für die guten Seiten des Kosovo."

Unter dem verblichenen Porträt vom Adem Jashari hat sich eine lange Menschenschlange gebildet, ganz wie zu alten Zeiten. Das überlebensgroße Bild des bärtigen UCK-Kämpfers hängt an der Fassade des Jugend- und Sportpalastes in Pristina. Das Gebäude ist ein guter Orientierungspunkt im Zentrum der kosovarischen Hauptstadt, die schwarzen Stahlträger auf dem Dach sind von Weitem zu erkennen.

Dass hier so viele junge Leute auf Einlass warten, ist ungewöhnlich. Seit es vor zwölf Jahren im Keller brannte, steht das Gebäude leer und verfällt. Wo bis in die 90er-Jahre hinein sozialistische Pioniere feierten, wird heute nur noch das Erdgeschoss genutzt: als Parkplatz.

"Es ist eigentlich eine Ruine. Es gibt nichts hier. Es gibt nur Wände und Staub. Wir haben die Halle gemietet und sie wieder zum Leben erweckt."

Rina Kika ist 22. Die Kosovarin studiert Jura, hat bereits für die amerikanische Entwicklungshilfebehörde gearbeitet und war als kosovarische Austauschstudentin in Finnland. Ihr Freund Tobias Bienz kommt aus der Schweiz und studiert Schauspiel. Gemeinsam laden die beiden zur Kunstperformance in den leer stehenden Jugendpalast.

"Für mich bedeutet diese Halle das ganze Wesen von Kosovo jetzt hier, weil es hat junge Menschen, unsere jungen Körper sind in dieser Halle und machen etwas und die Halle ist einfach nur kaputt, nicht benutzt, auch nicht groß benutzbar, wir mussten alles installieren selber, und voll von Geschichte, weil sie das geschichtsträchtigste Gebäude ist in der Stadt, das aber auch in Vergessenheit geraten ist."

Zusammen mit 60 jungen einheimischen Künstlern haben die beiden eine spektakuläre Performance auf die Beine gestellt. An diesem Abend gehört der alte Jugendpalast wieder der Jugend. Das Programm dauert eine Stunde lang und trägt den Titel "Pristina Mon Amour". Über Bildschirme flimmern Filmsequenzen aus dem ehemaligen Ostblock, an den Wänden Bilder von Pionieren. Eine Frau fährt wie manisch mit einem Lippenstift über ihre Lippen, immer wieder, bis das ganze Gesicht rot verschmiert ist. Männer und Frauen laufen gegen eine Wand, schlagen mit ihren Köpfen dagegen, nehmen neuen Anlauf.

"Eins der ersten Bilder, das geblieben ist, und für mich auch zentraler Teil des Abends ist, ist ein Mensch, der singt und schreit für das Leben und Freude hat und die ganze Zeit aber gegen eine Betonwand rennt und er rennt zurück und wieder und wieder und es hört einfach nicht auf, bis er am Boden liegt und kaputt ist. So kam mir das vor, wie die jungen Menschen hier, sie wollen so viel, aber es ist so klar, dass alles so scheiße ist, dass es eigentlich keine Hoffnung geben dürfte, aber sie haben sie trotzdem."

Eigentlich dürfte es hier keine Hoffnung geben – könnten westliche Ausländer meinen, die ins Kosovo kommen. Jeder Zweite hier ist unter 25 Jahre alt. Dreiviertel der Jugendlichen haben keinen Job. Wer Arbeit hat, verdient im Schnitt nicht mehr als 260 Euro - die Hälfte von dem, was Unternehmen im Nachbarland Mazedonien zahlen. Teile von Wirtschaft und Politik sind in der Hand korrupter Eliten mit Verbindungen zur Mafia.

Eine Hypothek ist auch die Vergangenheit. Der Kosovokrieg liegt 14 Jahre zurück und ist längst nicht aufgearbeitet. Die 90er-Jahre betrachten viele als ein verlorenes Jahrzehnt. Damals wurden Angehörige der albanischen Bevölkerungsmehrheit aus dem Staatsdienst entlassen, ihre Sprache aus den Schulen verbannt, viele Familien flohen ins Ausland.

Rina Kika nutzte diese Zeit, um Deutsch zu lernen:

"'"Ich hab von dem Fernseher gelernt, so komisch es klingt. Vor dem Krieg gab es keine albanischen Fernsehsender hier. Es gab nur Serbisch. Und meine Generation spricht entweder deutsch, italienisch oder türkisch, je nachdem wo die Eltern eingeschaltet haben.""

Die Performance im Jugendpalast ist für Rina Kika mehr als nur ein hippes Kunstevent mit Abrisscharme. Der Abend in der Ruine beweist in ihren Augen, dass aus dem Nichts und zusammen mit anderen etwas Neues entstehen kann.

"Hier gab es wirklich nichts. Wir haben alles installiert und all diese Energie gebracht, das ist auch ein Beweis, den Menschen zu zeigen, dass Sachen möglich sind. Man muss den Willen haben, etwas zu tun. Es gibt hier viele, die immer ihre Wünsche wiederholen, aber sie machen nichts dafür, dass sie diese Wünsche erreichen. Wir haben ihnen gezeigt, dass Dinge wirklich möglich sind. Wir können etwas tun. Wir müssen es nur wollen und Zeit und Energie investieren."

An anderen Ecken von Pristina wird renoviert und neu gebaut. Überall in der Stadt sind in den vergangenen Jahren Glas- und Betonpaläste entstanden, die vom Wohlstand einzelner künden oder von den Überweisungen aus der Diaspora.

Auch gegenüber dem Jugendpalast ist die Straße aufgerissen. Hier lässt der Bürgermeister die einzige Fußgängerzone von Pristina verlängern, die Stadt soll schöner werden.

"Statt für Straßen und Gebäude brächten wir Geld für Bildung. Da ist seit 1999 am wenigsten investiert worden, und das in einem Land, in dem zwei Drittel jünger als 35 sind. Da müsste die Regierung doch Geld in die Bildung und in den Arbeitsmarkt stecken, um diese hohe Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen."

Besa Luci hat ihr Büro im ersten Stock eines grauen Wohnhauses, gleich neben der Fußgängerzone. Von ihrem Balkon aus blickt sie auf das umzäunte Gebäude der EU-Mission EULEX, die beim Aufbau von Justiz und Demokratie helfen soll. Im Hintergrund das Dach des Jugendpalastes. Vor zwei Jahren hat die 28-jährige Journalistik-Absolventin "Kosovo 2.0" gegründet: ein Magazin, das alle sechs Monate erscheint und auch im Internet steht. Junge Autoren stellen dort neue Bands und Künstler vor und diskutieren über Mode, Korruption oder die schlechte Ausstattung von Schulen und Unis:

"Dahinter stand die Idee, jungen Menschen im Kosovo eine Stimme zu geben und damit auch die Möglichkeit, sich aktiver einzubringen. Wir sind die einzige unabhängige Diskussionsplattform hier. Wir wollen den jungen Leuten helfen, sich mit Jugendlichen aus der ganzen Welt auszutauschen, das ist der erste Schritt zum Wandel."

Besa Luci trägt das Haar hochgesteckt, die weiße Bluse ist mit blauen Streifen abgesetzt. Auf dem Tisch steht ein Notebook, hohe Stapel Papier überragen eine Dose zuckerfreie Cola und eine Schachtel Lucky Strikes.

An der Columbia-Universität in Missouri hat Luci Magazin-Journalismus studiert. Zurück im Kosovo löste sie zusammen mit ihren jungen Kollegen eine kleine Medienrevolution aus. Denn die meisten Zeitungen hier betreiben regierungstreuen Verlautbarungsjournalismus und interessieren sich nicht besonders für die Anliegen der Jugend.

"Mir war trotzdem immer klar, dass ich zurückkommen würde nach meiner Ausbildung. Ich hatte immer vor, etwas Neues mitzubringen, so wie viele andere das ja auch tun. Nach dem Studium im Ausland erreicht man irgendwann den Punkt, wo man etwas für die eigene Gesellschaft tun und Veränderungen auf den Weg bringen kann."

Vor fünf Jahren erklärte das Parlament in Pristina die Unabhängigkeit. Doch Serbien betrachtet das Territorium weiterhin als abtrünnige Provinz. Jedes zweite UN-Mitglied verweigert dem Kosovo die Anerkennung, darunter auch EU-Staaten wie Spanien, Griechenland und Rumänien. Der Weg ins Ausland bleibt vielen Kosovaren versperrt, weil sie - anders als etwa die Bewohner von Serbien, Albanien oder Bosnien - ohne Visum nicht reisen dürfen.

"Wir brauchen nicht nur Reformen hier im Land, sondern auch eine klare Haltung Europas. Kosovo ist ein Land im Schwebezustand. Wie soll die junge Generation eine fortschrittliche Stimme des Wandels sein, wenn sie abgelehnt wird, sobald sie reisen möchte, um zu sehen, was in der Nachbarschaft los ist. Da entsteht viel Enttäuschung. Wir müssen alle Verantwortlichen dazu bringen, ordentlich ihren Job zu machen."

"Wie kann man Leute für voll nehmen, wenn man alle Wege blockiert, sie zu kennenzulernen? Das ganze internationale Image des Kosovo basiert doch auf Menschen, die in Deutschland oder sonst wo auf der Baustelle arbeiten. Gebt den Menschen die Gelegenheit, sich gegenseitig zu treffen!"

Guri Skodra sitzt auf einem grün bezogenen Cocktailsessel. Auf dem Couchtisch steht ein voller Aschenbecher, an der Bar rauscht eine Kaffeemaschine. Das Café im Zentrum der Stadt heißt "Tingel Tangel". Es ist so etwas wie ein zweites Wohnzimmer für den 27-Jährigen mit dem schwarzen Vollbart:

"Wenn du jung bist und auf der Flucht vor Stereotypen, dann landest du hier. Man trifft hier tolle Menschen ohne Vorurteile oder Scheuklappen. Das ist einer der coolsten Orte der Stadt. Die Möbel kommen übrigens alle vom Flohmarkt in Deutschland."

Der studierte Jurist arbeitet tagsüber in einer Organisation, die den Jugendaustausch mit Serbien voranbringen will. In seiner Freizeit macht Shkodra Musik: als Gitarrist in der Band Gillespie.

In einem Land wie dem Kosovo kann beides frustrierend sein, erzählt Shkodra: die Jugendarbeit mit dem einst verfeindeten Nachbarn - und das eigene Hobby. Denn auch als Musiker kann Shkodra nicht einfach reisen, wohin er will. Schon die Einladung zu einem Auftritt im EU-Staat Slowenien stellte die Band vor kaum überwindbare Hürden:

"Auf dieser Tour haben wir mehr für die Autoversicherung bezahlt, als wir mit der ganzen Konzertreise verdienten. Mit einem Nummernschild aus dem Kosovo müssen wir viel mehr zahlen als andere. Und alle Grenzposten bestechen: denn wir dürfen keine Wertsachen mitführen, weil das Kosovo nicht Teil der entsprechenden Zollvereinbarungen ist – so wie vieler anderer internationaler Abkommen auch nicht."

Seine Musik verkauft Shkodra im "Tingel Tangel" und stellt sie kostenlos ins Internet. Alle sollen sie hören können, sagt er und zündet sich noch eine Zigarette an. Auch die, die kein Geld dafür haben:

"Die Leute sind engagiert und tatendurstig, das gefällt mir. Ich glaube, die jungen Menschen werden einiges verändern in diesem Land. Kulturell passiert hier mittlerweile so viel. Wo früher nur zehn Karten fürs Theater verkauft wurden, muss man heute im Voraus reservieren. Aber wir brauchen Zeit. Du kannst von einem isolierten Land nicht erwarten, dass es so schnell wächst und die Leute von heute auf Morgen ein gutes Leben haben."

Im Jugendpalast ist die Performance längst zu Ende, das Haus ist leer, die Lichter sind aus.

Jetzt richten sich riesige Scheinwerfer auf die meterhohe Skulptur auf dem Vorplatz. Gelbe Buchstaben bilden das Wort "NEWBORN", "neugeboren", ein Symbol für die Unabhängigkeit. 2008, als sich das Kosovo für souverän erklärte, setzten die führenden Politiker ihre Unterschriften auf die Skulptur, inzwischen sind die Namen zahlloser Passanten hinzugekommen. Die Buchstabenskulptur ist zu einem beliebten Treffpunkt geworden.

Heute flattern hier rot-weiße Absperrbänder. Aus großen Lautsprecherboxen ertönt der erfolgreichste Musikexport des Landes. Die gebürtige Kosovarin Rita Ora, mehrfache Nummer eins der britischen Charts, dreht vor dem Nationalsymbol ihr neues Video.

Als Rita Ora 1990 in Pristina geboren wurde, begann Jugoslawien gerade zu zerfallen. Ein Jahr später zog die Familie weg, nach London, wie so viele andere Kosovo-Albaner auch. Rita Ora machte Karriere.

"Rita Ora ist eine tolle Botschafterin, ich bin sehr stolz auf sie."

Ardin Badivuku betreibt eine Veranstaltungsagentur. Nach Mitternacht beginnt eine Party, die er im größten Klub der Stadt organisiert. Als Stargast wird Rita Ora erwartet:

"Sie wirbt mit ihrer Popularität für das Land, aus dem sie stammt. Das ist ein gutes Beispiel, wie man etwas für das Land tun kann. Die Regierung und der Präsident müssen solche Leute unterstützen."
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