Aufbruch im neuen Jahrtausend

Martin Buchholz im Gespräch mit Dr. Thies Gundlach · 22.08.2009
Der Leiter der Abteilung "Kirchliche Handlungsfelder" im Kirchenamt der EKD, Dr. Thies Gundlach, sieht dringenden Reformbedarf. Es brauche neue Impulse, um die "Atmosphäre der Mutlosigkeit" zu überwinden.
Martin Buchholz: Herr Dr. Gundlach, das Impulspapier des Rates der EKD "Kirche der Freiheit" stellte ja sehr eindringlich die Frage: "Was passiert, wenn nichts passiert?" Was würde denn ihrer Meinung nach mit der evangelischen Kirche passieren, wenn sich nichts ändert?

Thies Gundlach: Wir würden in der Atmosphäre bleiben müssen, in der wir manchmal sind.
Eine Atmosphäre der Mutlosigkeit, sag ich mal, eine Atmosphäre des: "Wir schaffen das nicht! Wir sind überfordert, wir können die anderen Menschen nicht mehr so gut erreichen wie früher!" Aus dieser Atmosphäre der Mutlosigkeit, ich bleib dabei, und der Resignation herauszufinden und mit gutem Engagement, aber auch mit klarer Strategie sich den Herausforderungen zu stellen, das ist sozusagen der Impuls des Impulspapiers gewesen. Und das hat mehr geklappt, als wir selbst gedacht haben. Also der Impuls hat getroffen, und das ist eigentlich das Beste, was man davon sagen kann.

Buchholz: Drei Jahre her, dass der Impuls veröffentlicht wurde. Was konkret ist denn passiert?

Gundlach: Also ich glaube, man kann mindestens drei Sachen sagen: konkret passiert ist, dass eine Diskussion verstärkt worden ist, die gab es auch schon vorher, eine Diskussion, die heißt: Was müssen wir eigentlich verändern, damit wir bleiben können in dieser Zeit diejenigen, die wir sind? Denn das haben schon die Alten immer gesagt: man muss sich verändern, um die Traditionen zu wahren.

Das Zweite ist: konkret haben sich viele Themen durchgesetzt, die kaum noch aufzuhalten sind, also die Frage nach der Qualität dessen, was wir machen, ist eine völlig legitime Frage geworden. Das war lange Zeit nicht ganz so bekannt.
Die Frage nach der missionarischen, nach der einladenden Kirche, - ist immer gestellt worden, und trotzdem hat sie neuen Schwung gekriegt.
Wir haben das Thema "Führen und Leiten in unserer Kirche". Wer verantwortet eigentlich was? Ein Thema, das es auch immer schon gegeben hat, aber das auch mit ganz neuer Priorität behandelt wird.

Und das Dritte: wir haben viele Dienstleistungsideen für die Gemeinden vor Ort, für die Kirchenkreise, wirklich auch umgesetzt. Es sind Zentren gegründet worden, in denen vor Ort dann auch Unterstützung abgerufen werden kann, in denen Gemeinden, Kirchenkreise, Regionen auch wirklich nachfragen können: Wie kann man es machen? Habt ihr eine Idee für uns, könnt ihr uns unterstützen?

Also, auf allen drei Ebenen ist, würde ich sagen, doch schön viel passiert. Die Aufgaben sind nach wie vor groß, die Herausforderungen sind da, aber es ist vielleicht im Unterschied zu der Zeit vor vielleicht drei, vier, fünf Jahren nicht mehr so die Grundatmosphäre der Resignation, sondern: "Jo! Wir schaffen das, wir müssen uns anstrengen, es geht nicht umsonst, aber wir sind viel besser, als wir selbst manchmal glauben!"

Buchholz: Im Impulspapier zum Reformprozess wurde angeregt, die Zahl der 23 Landeskirchen erheblich zu reduzieren. Das hat ja für große Aufregung gesorgt. Hat sich die wieder gelegt?

Gundlach: Das Thema war einmal ganz groß in der Presse. Es ist ja erstaunlicherweise der Grundsatz, den Wolfgang Huber auch immer wieder nennt: die kirchliche Aufmerksamkeit wird dann erreicht, wenn man es schafft, sein Thema, das man in der Kirche gerne aktualisieren möchte, über die allgemeine Presse zu spielen. Und insofern hatte die große Welle, die das ausgelöst hat, auch in den überregionalen Zeitungen, erstmal zur Folge, dass in der Kirche plötzlich drüber diskutiert wird: "Wieso sind wir eigentlich 23 Landeskirchen? Wie kommt das eigentlich? Was war 1806? Was hat das damit zu tun? Napoleon, Napoleon? Der lebte doch auch irgendwann mal …" Kurzum: Es ist erstmal auch ein Aufklärungsschritt gewesen.
Und das Zweite ist, dass man sagen muss, es hat sich in der Zwischenzeit in diesen drei Jahren, an dieser Stelle des Föderalismus ja viel mehr bewegt, als wir – diejenigen, die das geschrieben haben - überhaupt für möglich gehalten haben.

Also die Nordkirche ist am Horizont aufgetaucht, die mitteldeutsche Kirche ist gegründet. Es gibt Kooperationen im diakonischen Bereich, die unvorstellbar waren vor fünf Jahren. Also, ich würde mal sagen, da ist viel mehr passiert, und vielleicht auch sinnvoller, weil es dann von unten gewachsen ist. Wenn man das in so einem Text schreibt, wir haben ja gesagt: "Acht bis zwölf Landeskirchen, orientiert an den Bundesländern", - da würde ich jetzt heute auch nicht mehr drum kämpfen, ob es nun Orientierung an den Bundesländern oder… aber ich glaube, dass der Anstoß zu sagen: Welche Struktur brauchen wir eigentlich, um gut evangelische Kirche zu sein? ein Ergebnis ganz eindeutig gebracht hat: Wir wollen weder eine Einheitskirche, die für Gesamtdeutschland ist, noch wollen wir die Zerfledderung und viele kleine Stückchen. Und dazwischen liegt die Wahrheit, und die werden wir finden. Und dann sind es vielleicht 16 Kirchen oder 20. Das ist dann sozusagen die zweite Frage. Die entscheidende Frage ist: was sollen Landeskirchen können? Was müssen sie können, damit in den Gemeinden und Kirchenkreisen gut gearbeitet werden kann? Und diese Frage ist präsent geworden.

Buchholz: In dem Reformprozess wurde auch noch einmal angemahnt, ein deutlich wahrnehmbares "evangelisches Profil" herauszuarbeiten. Was ist denn nun typisch evangelisch?

Gundlach: Also, diese Rede von "Profil", von "Gesicht zeigen", von wahrnehmbar machen, ist ja eine sehr kluge und begrenzte Rede. Also, wir haben eine Zeitlang in unserer Kirche das Stichwort gehabt: "Wir sind die Kirche der Pluralität!" Das stimmt auch, wir haben eine große Vielfalt, mit ganz verschiedenen Ansätzen, und die Spannbreite dessen, was sich evangelisch nennt und auch gegenseitig als evangelisch anerkannt wird, ist sehr breit.

Die Rückseite ist, dass Vielfalt an und für sich überhaupt kein Profil ist, sondern Vielfalt ist gerade das Gegenteil davon. Und von daher ist die Frage: "Was zeichnet uns denn im Unterschied zu vielen anderen christlichen Konfessionen, was zeichnet uns eigentlich aus, was können wir besonders gut, was sind unsere Stärken?" Ich frag das mal ganz positiv, nicht nur nach den Grenzen. Dann ist doch sehr schnell die "Kirche der Freiheit" oder auch die "Kirche der Befreiung" oder der "freie Christenmensch", - also diese Kombination zwischen Bindung an Christus einerseits und auf der anderen Seite eine große Offenheit für die Gegenwart und für die Welt, in der wir leben. Diese Spannung: mit dem Herzen in Christus im Vertrauen auf Gott leben und gerade deswegen: offene Augen in die Welt. An dieser Spannung, an dieser Grenze arbeiten wir. Deswegen gibt es auch auf der einen Seite sehr intensive Auseinandersetzungen über die Frage: Wer ist Christus, was ist Kreuzestod für uns? Hat es ja in den letzten Jahren intensiv gegeben. Und auf der anderen Seite eine sehr neugierige Kulturarbeit, die auch versucht wahrzunehmen: was gibt es eigentlich außerhalb der Kirche an geistigen Strömungen, an intellektuellen Bewegungen?

Also ich glaube, gerade diese Spannung: Wer mit beiden Beinen in Christus steht, der kann die Arme ganz offen machen. Und das ist genau der Grundgedanke, den ich schon für ein Profil halte, das wir festhalten sollen. Dafür können wir auch dankbar sein, dass wir mit dieser Art von Impuls 500 Jahre nach der Reformation immer noch sehr viel Rückenwind haben und auch Menschen berühren und erreichen können, weil das ist eine wunderbare Botschaft fürs Leben.

Buchholz: Die demographische Entwicklung wird weitergehen, die Menschen werden immer älter. Die evangelische Kirche verzeichnet große Rückgänge bei Taufen, bei Trauungen. Glauben sie persönlich daran, dass sich diese Entwicklung tatsächlich noch verändern lässt?

Gundlach: Prozentual zu der Bevölkerungsentwicklung gehen natürlich in absoluten Zahlen gesehen unsere Taufen und Trauungen zurück. Relativ zu den auch zurückgehenden Bevölkerungszahlen sind wir aber auch nicht schlechter dran als andere auch. Also, natürlich haben wir insgesamt weniger Taufen und Trauungen. Aber es werden auch weniger Taufen und Trauungen gemacht, es werden weniger Kinder geboren, es wird weniger geheiratet, insofern: da fallen wir gar nicht so richtig raus. Deswegen haben wir im Impulspapier gesagt: Lasst uns das Ziel vor uns nehmen, dass wir den Anteil an der Gesamtbevölkerung, also die 33 Prozent, die jetzt evangelisch sind, auch in der nächsten Generation aufrechterhalten.

Da bin ich noch gar nicht so mutlos, wie das vielleicht manchmal klingt in unseren Kirchen. Wir sind in einer Gesellschaft, die älter wird, jawoll! Und wir sind in einer Kirche, die auch prozentual älter wird. Das sind riesige Herausforderungen sowohl seelsorgerlich, diakonisch für das Älterwerden; auch was die Angebote für junge Leute, - der Kampf um die Aufmerksamkeit der jungen Leute, der Kinder, nimmt ja gigantische Ausmaße an, - und trotzdem bin ich jetzt mal ganz zuversichtlich, dass wir, ja, meinetwegen, im Blick auf die Konfirmationen, da gehen die Zahlen überhaupt nicht zurück. Im Gegenteil, da gibt’s manche kleine Zuwächse im Osten und ne hohe Stabilität im Westen, wobei ich auch glaube, dass wir uns anstrengen müssen, also als Kirche auch uns den Menschen zuwenden müssen, damit das so bleibt, damit wir diesen Anteil an der Bevölkerung auch in Zukunft haben. Man kann nicht zufrieden sein mit seiner kleinen Gemeinde, man sollte nicht dann aufhören, wenn man ein bestimmtes Klientel bedient und sagt: "Das andere ist mir egal!" Also, gerade da hin zu gehen, wo wir lange schon nicht mehr waren als Kirche. Und die Menschen aufzusuchen, die schon lange nicht mehr dabei sind und von Gott wenig gehört haben, das finde ich den Piekser, den Anspruch, den Impetus, der aus dieser Formulierung "Volkskirche" rauskommt. Und insofern glaub ich, geht die Volkskirche nie zu ende, weil sie nichts mit der Menge des Volkes zu tun hat, das bei uns ist, sondern mit dem Volk, an das wir gewiesen sind.

Buchholz: Herr Dr. Gundlach, vielen Dank für das Gespräch.