Aufarbeitung

Die junge Literatur nährt den Opfermythos

Ein Thema vieler aktueller Bücher: Die Verstrickung der Großeltern in die NS-Diktatur.
Ein Thema vieler aktueller Bücher: Die Verstrickung der Großeltern in die NS-Diktatur. © picture alliance / dpa / Peter Endig
Von Claudia Lenssen · 03.06.2014
Nach Opas Tod wird in Nachlässen seine Verstrickung in die NS-Diktatur offenbar - So ähnlich funktionieren inzwischen viele Familienromane, die um Verständnis für diese Generation bemüht sind. Dieser Sammelband zeigt auf, dass das auch gefährliche Nebenwirkungen haben kann.
Enkel stoßen in Familiennachlässen auf die verheimlichte NS-Verstrickung der Großeltern – mit dieser oder einer ähnlichen Erzählkonstruktion greifen viele Romane der jüngeren Autorengeneration das Dilemma deutscher Erinnerungskultur auf. Per Leos 2014 erschienener Roman "Flut und Boden" ist das aktuellste Beispiel einer "Enkelliteratur", die von Edelfedern des Feuilletons gern zum Trend einer "frischen", soll heißen: unbefangenen persönlichen Annäherung an die NS-Geschichte erklärt wird.
Der Literaturwissenschaftler Jan Süselbeck entdeckt in diesem Phänomen eine Vielzahl widersprüchlicher Diskurse. Die Autoren des von ihm herausgegebenen Buches "Familiengefühle – Generationengeschichte und NS-Erinnerung in den Medien" untersuchen in einem Dutzend Essays neben zwei Comics und einem Dokumentarfilm exemplarische Familienromane, darunter Arno Geigers "Es geht uns gut" und Reinhard Jirgls "Die Unvollendeten", vergleichen die Methoden ihrer "Emotionalisierungskunst" mit älteren Texten von Alfred Andersch und Gisela Elsner und stellen der Feuilleton-Begeisterung für die neuen generationsgeschichtlichen Familienromane die fundierte Skepsis der literaturwissenschaftlichen Zunft entgegen.
Anders als die Elterngeneration der 68er nimmt die Enkelgeneration ihre Spurensuche nicht mit dem Furor der Anklage auf, sondern ist um Verständnis bemüht. Wenn überhaupt, scheint die Entschleierung biografischer Wahrheiten nur indirekt möglich durch Dokumente und Fundstücke, kaum über direkte Konfrontationen mit Tätern und Mitläufern.
Ins Zentrum rücken die Gefühle des erzählenden Ichs, das seine Wurzeln sucht und dabei Gefahr läuft, um sich selbst zu kreisen.
Opa war kein Nazi
Die Essays untersuchen prägnante Beispiele emotionalisierenden Schreibens und fragen nach den möglichen Nebenwirkungen, wie sie etwa Bernhard Schlinks Bestseller "Der Vorleser" dem kulturellen Gedächtnis einprägt: In der "gefühlten Geschichte der Bundesbürger" des privaten Erinnerns wird das Bild einer Vergangenheit erzeugt, in dem "Opa kein Nazi" war.
Auch Fernsehmelodramen wie "Unsere Mütter, unsere Väter", so die knappen Verweise der Buchautoren auf zeitgenössische Emotionalisierungsstrategien, spielen hemmungslos auf der Klaviatur melodramatischer Effekte und verknüpfen banale Identifikationsangebote kurzerhand mit der unterschwelligen Botschaft, die Generation der Großeltern sei Opfer, nicht Mittäter gewesen.
Die Essaysammlung wehrt das Bedürfnis nach Familienromanen und biografischen Annäherungen nicht ab, sie bietet anschauliche kritische Lektüren zum Umgang mit der NS-Geschichte.
Arno Geiger beschreibt in "Es geht uns gut", wie hinter der Harmlosigkeit einer Entrümpelungsaktion in der großväterlichen Villa ein schuldhaftes Familiengeheimnis lauert, Uwe Timm befragt und bezweifelt in "Am Beispiel meines Bruders" die Briefe und Fotos seines älteren Bruders, der in der Waffen-SS war, Gisela Elsner verstört in "Fliegeralarm" mit einer Parabel über fanatische Kriegskinder, Günter Grass beschwört in der Novelle "Im Krebsgang" das Schicksal des Flüchtlingsschiffs Gustloff in düsterer Stimmungsästhetik.
Die Antwort auf die Frage, ob die jüngere Literatur die Schuldfrage revidiert und einen deutschen Opfermythos konstruiert, ist nicht von der Generationenzugehörigkeit der Autoren abhängig, resümiert das Buch. Was zählt, ist die Haltung, mit der sie Gefühle ansprechen.

Jan Süselbeck (Hg.): "Familiengefühle – Generationengeschichte und NS-Erinnerung in den Medien"
Verbrecher Verlag, Berlin 2014
304 Seiten, 18 Euro