Auf der Suche nach einer neuen Stadttheorie

Von Stefanie Oswalt · 25.05.2013
Mit der Urbanisierung verschwindet die Religion aus den Köpfen, diese These wurde jahrelang in der Wissenschaft nicht hinterfragt. Ein Projekt erforscht jetzt, ob das überhaupt stimmt - und die Ergebnisse überraschen selbst die Wissenschaftler.
Stephan Lanz: "Global Prayers ist ein Kultur- und Forschungsprojekt, das sich mit dem Boom neuer religiöser Gemeinschaften in den Städten weltweit beschäftigt. Also es ist nicht klassischerweise die katholische und die evangelische Kirche, sondern es sind neue Pfingstbewegungen, es sind evangelikale Kirchen, Sekten aller Art wenn man so will, es ist nicht der traditionelle Islam, sondern es sind eher islamistische Strömungen, es ist nicht der klassische Hinduismus, sondern es sind nationalistische Bewegungen..."

Stephan Lanz unterrichtet Stadtgeographie an der Viadrina Universität in Frankfurt an der Oder. Seit mehr als zehn Jahren untersuchen er und seine Kollegen der Berliner Forschungs- und Künstlergruppe metroZones das Verhältnis von Stadt und neuen religiösen Bewegungen:

"Der zentrale Grund ist, dass wir alle aus der Stadtforschung kommen und in der Stadtforschung die Säkularisierungsthese von Max Weber eigentlich immer für völlig selbstverständlich gehalten wurde, nämlich dass sich Religion immer stärker zurückzieht und zwar vor allem aus der Stadt zurückzieht und sich vor allem aus der Stadt zurückzieht, dass Religion und Urbanität im Grunde inkompatibel sind und nicht zueinander passen."

MetroZones hat genau das Gegenteil beobachtet: In Rio de Janeiro, Djakarta, Lagos, Mexiko-City in Istanbul, Beirut, Amsterdam, Atlanta und Berlin boomen neue religiöse Bewegungen und entwickeln oft eine starke ökonomische Basis – daher auch der Name "Global Prayers" in Anlehnung an "Global Players". Was die Gruppe vorgefunden hat, präsentiert sie nun in einer Bestandsaufnahme.

Jochen Becker: "Das schlagendste Beispiel ist sicher die RCCG, "Redeemed Christian Church of God", die größte nigerianische Pfingstkirche, die sogar zwei Headquarters, ein nationales und ein internationales, in Lagos, hat, das internationale ist etwas außerhalb gelegen an einer Autobahn, weil da überhaupt dieses riesige Areal zur Verfügung stand, um dort eine eigene Stadt aufzubauen."

...sagt Jochen Becker, Kurator von Global Prayers, der sich intensiv mit der nigerianischen Megacity beschäftigt hat. Lagos, im südlichen, christlichen Teil des Landes gelegen, zählt etwa 10 Millionen Einwohner und gilt als eine der kriminellsten Städte der Welt. Wie sehr hier eine erst vor einigen Jahrzehnten gegründete Kirche baulich, sozial und gesellschaftlich das Leben in einem Teil der Stadt beherrscht, hat Becker und Stadtethnologin Katrin Wildner beeindruckt.

""Es ist nicht nur so, dass dort ein riesiger Hangar steht, wo diese 700.000 vielleicht sogar mehr Gläubige zusammen kommen können, sondern die haben eine Universität, die haben einen Supermarkt, die haben "Gated Communities", also man kann da teuer Investment tätigen – diese "City of God" – oder der Stadtteil Gottes – die regiert sich mehr oder weniger selbst."

Katrin Wildner: "Dass das so geordnet ist und so diszipliniert, das fand ich beeindruckend, beunruhigend, faszinierend, einfach eine halbe Million Menschen auf einem Fleck zu sehen, die gemeinsam beten, wo man aber das Gefühl hat, es ist alles kontrolliert und geordnet..."

An Orten wie Lagos, aber auch in den von Drogenkriminalität geplagten Favelas Rio de Janeiros haben öffentliche Institutionen wie Verwaltung oder Polizei oft jeden Einfluss verloren. Hier verzeichnen evangelikale Kirchen großen Zulauf, weil sie ersatzstaatliche Strukturen errichten und darüber hinaus Heilsversprechen anbieten, sagt Stadtforscher Lanz:

Jochen Lanz: "Diese neuen Gemeinschaften haben eine Lehre des Wunders, wenn du zu uns kommst, wird Gott das Wunder vollbringen, dein Leben vollkommen zu verändern, sie folgen oft dem sogenannten 'Prosperity Gospel'. Das heißt, sie gehen eigentlich davon aus, dass, wenn man Gott gehorcht, nicht erst im Jenseits das Paradies findet, sondern bereits im Diesseits das eben durch Wohlstand belohnt wird."

Andernorts sind die Anzeichen für einen Wandel der städtischen Religion subtiler: Etwa in Mexico City, wo die Kulturwissenschaftlerin Anne Huffschmid recherchiert hat.

Anne Huffschmid: "Gerade in Mexiko Stadt ist der Alltag immer sehr von unterschiedlichsten Formen religiöser Zeichen und Zeichensprachen durchsetzt gewesen."

So finden sich an allen Ecken Altäre der Virgen de Guadaloupe, einer traditionellen Mariengestalt. Seit einigen Jahren gesellen sich aber auch neue Heiligenfiguren hinzu: Etwa die Santa Muerte, eine populäre Totenheilige. In ihr, so Huffschmid, drücke sich die Sehnsucht der städtischen Gesellschaft nach neuen spirituellen Angeboten jenseits des herkömmlichen Katholizismus aus:

"Die stehen da so quasi nebeneinander, die geben so eine neue religiöse Vielfalt und die konkurrieren gar nicht unbedingt miteinander als Schutzfiguren oder als Kultfiguren... Wer da mehr Probleme hat, ist natürlich die Amtskirche, die genau dieses, dass das so friedlich miteinander koexistieren kann, als Bedrohung ihres ohnehin schon ziemlich untergrabenen Monopols wahrnehmen."

Die Ausbreitung neuer christlicher Bewegungen, übrigens auch in den kreativen Milieus in Berlin-Mitte, wo das so genannte "Berlin-Projekt" großen Zulauf verzeichnet, steht bei den Global Prayers besonders im Fokus. Doch "Faith is the Place" zitiert auch Beispiele aus der islamischen und hinduistischen Welt:

Jochen Lanz: "In Istanbul gibt es eine riesige Gated Community, also eine umzäunte und überwachte Wohnanlage für die obere Mittelschicht am Rande der Stadt, die seit den 90er Jahren aufgebaut wurde und in der fast ausschließlich religiöse Milieus wohnen. Das heißt, die Infrastrukturen sind auf Religiöse ausgerichtet, es gibt religiöse Schulen, religiöse Kindergärten, es gibt religiöse Modeläden, religiöse Shoppingmalls, religiöse Frisöre und so weiter und so fort. Die Leute laufen verhüllt herum, vor allem die Frauen natürlich, das ganze alltägliche Leben ist um religiöse Werte herum gruppiert, ist aber trotzdem im klassischen Sinne sehr modern."

Katrin Wildner: "Es ist ja eben nicht so, wie es lange behauptet wurde, dass sich das Religiöse durch die Modernität verändert, ablöst, sondern ganz im Gegenteil, dass es zum Beispiel in der türkischen Gesellschaft eine zunehmende, sich selbst als sehr modern, sehr global, sehr transnational verstehende Gesellschaftsschicht gibt, die aber sich auch als religiös definiert und die sich eigene Stadtviertel baut."

Besonders an dem "Global Prayers"-Forschungsprojekt ist die transdisziplinäre Herangehensweise.

Jochen Becker: "Wir sind immer daran interessiert, künstlerische Ansätze des Erkundens, des Erforschens und klassische wissenschaftliche Tätigkeiten miteinander zu verknüpfen..."

MetroZones will nicht nur Daten erheben, sagt Jürgen Becker, sondern sich mit vielfältigen kulturwissenschaftlichen Methoden, Workshops und Kunstproduktion der Vielschichtigkeit des Forschungsgegenstands nähern. Dazu gehört die Beschreibung und Analyse von Soundscapes – Klanglandschaften -, wie die Stadtethnologin Karin Wildner sie betreibt:

Der Ruf des Imams in muslimischen Städten, aber auch Kirchengeläut – vielerorts prägt der Glaube den Rhythmus von Städten. Analysiert man diese Klanglandschaften, ergeben sich auch Aufschlüsse über die Machtverhältnisse und darüber, wie sehr die neuen Bewegungen wieder in das Stadtleben hineinwirken.

Katrin Wildner: "Gerade die Pentecostal-Kirchen, um die es ja sehr viel bei uns geht, präsentieren sich durch Sound im öffentlichen Raum. Die sind ja oft sehr zurückhaltend in ihren Gebäuden, stecken viel in die Kraft des Wortes und ein typisches Zeichen ist da aber, dass sie das nach draußen verstärken, also Lautsprecher nach draußen stellen von den Predigten."

In Rio de Janeiro, berichtet Stadtgeograph Lanz, beginne der Gospel der evangelikalen Kirchen sogar den traditionellen Samba zu verdrängen. In Nigeria wiederum, so Anne Huffschmid, zeige die Verbindung von christlichem Glauben und HipHop, dass nicht nur religiöse Akteure den städtischen Raum sakralisieren, sondern dass das Städtische auch neue hybride Formen von Religiosität hervorbringe.

Die Beschäftigung mit der Religion in der Stadt hat die Projekt-Teilnehmer auch persönlich verändert. Die meisten von ihnen bezeichnen sich als säkular mit christlichen Wurzeln. Ihre ursprüngliche, kritisch neo-marxistische Herangehensweise an die Stadt empfindet Karin Wildner rückblickend gar als "engstirnig".

""Ich glaube, wir waren alle ziemlich darüber erschrocken, wie bewegt wir waren, weil wir alle der Religion skeptisch gegenüber standen. Wo am Anfang sogar die Frage war: Können wir das überhaupt aus so einer atheistischen Skepsis heraus machen?"

Diese Frage haben metroZones inzwischen positiv für sich beantwortet. Aber nun steht der Endspurt bevor, denn im letzten Jahr des Projekts geht es darum, aus der gigantischen, heterogenen Materialansammlung Schlüsse zu ziehen und – das selbst gesteckte Ziel ist groß – eine neue Stadttheorie zu formulieren.
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