Auf der Suche nach dem Ungewissen

Moderation: Katrin Heise · 14.11.2012
"Richtig zu Hause im Hier und Jetzt sind wir auch nicht", sagt die Schriftstellerin Thea Dorn und glaubt, dass es auch in unserer Gesellschaft eine Sehnsucht nach dem Transzendenten gibt. Insofern ähnele unsere Zeit der Romantik, deshalb habe sie auch ein entsprechendes Programm für das Literaturfest München kuratiert.
Katrin Heise: Thea Dorn hat bisher in ihrem literarischen Werk ein recht breites Spektrum vorgelegt, vom Thriller bis zum Gesellschaftsroman, aber auch politische Polemik, Theater, philosophische Essays fehlen nicht. Zuletzt hat sie mit Schriftstellerkollegen Richard Wagner in einem umfangreichen Buch die deutsche Seele ausgelotet. Vielleicht ist sie dabei ja nachhaltig auf die Romantik gestoßen, denn Themen der Romantik sollen das von ihr kuratierte Programm beim Forum Autoren beim morgen beginnenden Münchner Literaturfestival bestimmen. Ich grüße Sie ganz herzlich, Frau Dorn!

Thea Dorn: Einen wunderschönen guten Tag!

Heise: Lässt Sie die Romantik also tatsächlich nicht mehr los, seitdem Sie sich für Ihr letztes Buch so intensiv mit der deutschen Seele auseinandergesetzt haben?

Dorn: Ich muss gestehen, ich habe mich tatsächlich sehr verliebt in die Zeit rund um 1800 rum. Also, einerseits die frühe Romantik, wo Novalis, der ganz früh dann eben auch gestorben ist, seine wunderbaren Texte, seine "Hymnen an die Nacht" geschrieben hat, dann natürlich der ganz großartige Eichendorff, der einer meiner literarischen Hausgötter geworden ist, oder dann eher die spätere Romantik mit E.T.A. Hoffmann. Ganz zu schweigen natürlich von der großartigen Musik, in der die Romantik ja ein bisschen länger dauert. Also, wenn man so will, kann man ja auch noch Richard Wagner zur Romantik zählen, da war die in der Literatur ja längst durch.

Seitdem ich für das Buch "Die deutsche Seele" so viel gelesen und gehört habe zur Romantik, wünschte ich mir manchmal, ich wäre 1770 und nicht 1970 geboren!

Heise: Ist das so ein bisschen was wie eine Flucht auch aus der Wirklichkeit für Sie?

Dorn: Na ja, also, wenn Sie so wollen, ist das ja die einfachste Definition von Romantik. Also, Romantiker hatten ja insgesamt kein besonders liebevolles oder inniges Verhältnis zum Hier und Jetzt, sondern waren eher davon überzeugt, dass das alles mau, langweilig, durchschnittlich, fade, philisterhaft ist, und dass die eigentlich interessante Welt erst da anfängt, wo man die Augen schließt, wo man sich im tiefen Wald verläuft, eben wo die Nacht beginnt, wo man in Bergwerke steigt, in Höhlen steigt, wo man sich mit Elfen unterhält.

Und ich denke, dass unsere Gegenwart da möglicherweise gar nicht so weit weg ist, weil, wir leben ja auch in einer Zeit, in der die großen, dynamischen, kraftvollen, utopischen Gesellschaftsentwürfe keine große Rolle mehr spielen. Eigentlich leben wir sehr im Hier und Jetzt, und gleichzeitig fühlen wir, dass das doch irgendwie nicht alles gewesen sein kann. Also, richtig zu Hause im Hier und Jetzt sind wir auch nicht. Wir haben aber keine rechte Idee, wohin wir mit diesen driftenden Sehnsüchten, Erwartungen sollen. Und das ist eigentlich keine ungünstige Voraussetzung, um romantische Lebensgefühle wieder zu vermitteln.

Heise: Sie haben das Motto vom Forum Autoren "Hinaus ins Ungewisse" dann auch genannt. Also, das Ungewisse, sich zwischen den Welten bewegen ist auch heute noch, oder empfinden Sie auch heute noch als faszinierenderes Angebot als die Wirklichkeit?

Dorn: Ich würde sagen, ja. Also, das Problem heute, 200 Jahre später, ist natürlich, dass ... Auf einer erst mal jetzt eher Abenteurerebene ist natürlich dieses "Hinaus ins Ungewisse" heute deutlich schwieriger geworden. Also, damals ...

Heise: Ist schon alles gemacht, ja.

Dorn: ... konnte ein Humboldt oder auch noch der junge Forster, die sind zu Expeditionen, zu Weltreisen aufgebrochen und hatten keine ganz genaue Ahnung, wo sie da eigentlich landen werden oder auf was für ein Land sie ihren Fuß setzen. Die haben rauf und runter neuste Tierarten und was entdeckt.

Die Welt heute ist gewissermaßen vermessen und deshalb ist es natürlich schwieriger zu sagen, wo sind diese Abenteuer, die mich im Mark verunsichern, die auch von mir selber verlangen, dass ich alles, was ich zu wissen vermeine, über den Haufen werfe und tatsächlich mich diesem Ungewissen, diesem Unbekannten aussetze?

Und genau um solche Fragen soll es dann auch beim Festival gehen. Also, zum Beispiel ein Schriftsteller wie Christoph Ransmayr, den ich sehr verehre, hat ein neues Buch geschrieben, "Atlas eines ängstlichen Mannes". Das ist erst mal, wenn man so will, ein Reisebuch, wo er über Reisen schreibt, die er im Laufe seines Lebens gemacht hat, aber es ist natürlich kein Reisebuch jetzt im Sinne eines "Baedekers", dass da einem irgendwie interessierten Touristen erzählt wird, wo es die beste Säule und das beste Café zu besichtigen gibt, sondern das ist tatsächlich eher eine Reise ins Innere. Also, es geht eher um die Frage, was macht dieses Reisen mit dem Autor, welche Bilder, welche Erinnerungen tauchen auf, was hat dieses Reisen in ihm verändert?

Und da fängt dann auf einmal Reisen doch wieder an, was von einem Abenteuer zu kriegen, weil man selber eben nicht weiß, was ein scheinbar ganz harmloser Abend an irgendeinem See plötzlich mit einem angerichtet haben kann.

Heise: Sie haben eben das Stichwort Verunsicherung genannt. Diese Reise ins Ungewisse, Ungewisse der Wirklichkeit. Wenn ich mir so vorstelle: Die Ungewissheit in unserer Wirklichkeit, die überwiegt doch aber bei vielen Menschen die Gewissheit – also die Fragen, behalte ich meinen Arbeitsplatz, kann ich nächstes Jahr meine Miete noch zahlen, werden meine Kinder Energie und lebendige Umwelt noch zur Verfügung haben, diese Art von Ungewissheit meine ich –, führen diese Ungewissheiten, diese Verunsicherungen nicht viel eher bei Lesern zu einer Sehnsucht nach Gewissheiten, als sich noch weiter verunsichern zu lassen?

Dorn: Bei Lesern bin ich mir nicht so sicher. Ich würde sagen, bei den Durchschnittsteilnehmern unserer westlichen Gesellschaften, da haben Sie absolut recht. Aber das ist ja ein Paradox gleichzeitig: Also, wenn Sie sich anschauen, wie Menschen in anderen Gesellschaften jetzt jenseits der westlichen Hemisphäre leben oder wie wir früher gelebt haben, leben wir einerseits natürlich in einer unglaublichen Sicherheitszone. Also, alleine was wir an sozialen Auffangsystemen heute haben, das hatten Gesellschaften vorher in der Weise nicht. Was es an medizinischen Möglichkeiten gibt, also, ganz viele Krankheiten, die heute keine große Ungewissheit mehr sind, waren damals relativ gewisse Todesurteile.

Also, die Zonen, wo wir uns sicher fühlen und wo wir uns unsicher fühlen, die haben sich natürlich radikal verschoben. Also, zum Beispiel haben wir natürlich eine Angst durch die ganze Hochtechnologie, die wir gezüchtet haben, dass das uns eines Tages heimsuchen wird.

Andererseits glaube ich aber – und das ist eigentlich die zentrale Beobachtung, von der ich ausgehen will –, dass gerade weil wir so vergleichsweise sicher, nüchtern betrachtet, leben, wir uns gerade deshalb nicht sicher fühlen, sondern im Gegenteil immer ängstlicher werden. Und das finde ich ein, wenn Sie so wollen, fast tragisches Paradox unserer westlichen Hochzivilisation, dass all diese Sicherungssysteme, von denen wirklich andere Länder und unsere Vorgänger nur träumen konnten, dass die gerade nicht dazu führen, dass wir so was wie eine Lebensgelassenheit, ein In-uns-Ruhen finden, sondern im Gegenteil, sie machen uns ängstlich und verzagt.

Und das ist der Punkt, wo ich glaube, dass auch Kunst und Literatur einsetzen kann, zu sagen: In dem Maße, in dem wir natürlich nur noch an dem Hier und Jetzt interessiert sind, daran, dass jedes Bedürfnis, jeder Wunsch, jede Hoffnung, die wir haben, muss sofort und jetzt in diesem Leben erfüllt werden, dass wir uns den gesamten Bereich der – ich nenne es mal – transzendenten Hoffnungen und damit auch Träumereien abgeschnitten haben. Das wäre mein Verdacht, dass das einer der Hauptgründe ist, die uns so eben verzagt und ängstlich machen, weil wir uns mit Zähnen und Klauen ans Diesseits klammern, weil wir uns nichts anderes mehr vorstellen können als mehr oder weniger säkulare Gesellschaft. Und da, fürchte ich, haben wir ein Problem.

Heise: Sie als Schriftstellerin, Thea Dorn, und jetzt mit Ihrem Programm fürs Literaturfest, also fürs Forum Autoren, wollen dem ja was entgegensetzen. Kommt Ihrer Meinung nach also Romantik, Träumerei, Fantasie, auch in der derzeitigen Literatur zu kurz, mussten Sie sehr graben?

Dorn: Ach, wenn Sie sich meine Gästeliste anschauen, die von Martin Walser über Christian Kracht bis Felicitas Hoppe, Sibylle Lewitscharoff, Clemens Setz reicht, das sind ja jetzt alles keine unbekannten Autoren, um es vorsichtig zu sagen. Felicitas Hoppe hat gerade den Büchnerpreis gewonnen. Das ist ja nur auf den ersten Blick eine Biografie über Felicitas Hoppe oder eine Autobiografie. In Wahrheit schreibt sie ja nicht über ihr Leben, wie es gewesen ist, sondern wie ihre Kindheit, Jugend hätte sein können.

Und das sind für mich eben viel spannendere Bücher, als wenn ich mir einen brav erzählten Familienroman über drei Generationen anschaue, den ich lese und denke, das ist ein interessantes Stück Zeitgeschichte, Dokumentation, ziemlich genau so wird es gewesen sein, aber eben dann kann ich auch im Zweifelsfall ein Geschichtsbuch lesen oder schaue mir eine gute Dokumentation an. Da brauche ich nicht wirklich die Literatur mit ihren Möglichkeiten dazu.

Heise: Aber eine Kollegin wie Karen Duve beispielsweise, da habe ich mich schon ein bisschen gewundert, die auf der Romantikergästeliste zu lesen!

Dorn: Oh, Karen Duve ...

Heise: Ja, sie hat jetzt die Grimmschen Märchen nacherzählt ...

Dorn: ... ist nicht nur eine Vegetarierin, sondern Karen Duve ist auch eine große Träumerin, die schon lange eine Vorliebe für ... nennen wir es neumodische Fantasy-Geschichten hat. Sie hatte vor einigen Jahren den wunderbaren Roman "Die entführte Prinzessin", was ein Märchen ist, das sie erfunden hat, also, wenn man so will, ein Kunstmärchen. Und jetzt hat sie in der Tat fünf der bekanntesten Grimmschen Märchen nacherzählt in ihrer eigenen Art ...

Heise: Ziemlich unromantisch, eher grausam ...

Dorn: Also, klar, wenn aus diesen Zwergen bei "Schneewittchen", die sind halt nicht mehr die niedlichen kleinen Zwerge, sondern das sind ziemlich eklige, andererseits auch natürlich furchtbar ausgebeutete, zwergwüchsige Männer, die eben da im Stollen rumkrabbeln und dann irgendwie auch mal versuchen, Schneewittchen an die Wäsche zu gehen. Was schwierig ist, da sie etwas größer ist als sie.

Also, das ist natürlich, wenn Sie so wollen, auch eine ironische Brechung des Märchens, aber Karen Duve ist durchaus auch eine, die dann gerne wirklich den Kopf und die Gedanken wandern lässt und sagt, ja, ich möchte ich jetzt gerne über in Frösche verwandelte Polizisten und über Werwölfe eben und über merkwürdige Zusammenwohnmodelle von Zwergen mit kleinen, zickigen Schneewittchen schreiben!

Heise: Ist so was wie eine grausame Wendung von Science-Fiction auch, ja beispielsweise bei Clemens Setz jetzt, bei "Indigo" zu finden? Sind das so moderne Formen, würden Sie sagen, das sind moderne Formen von romantischer Kunst?

Dorn: Ich würde Clemens Setz zu den Romantikern, Neoromantikern, egal wie man sie nennen will, zählen. Ob er sich selber dazu zählt, das weiß ich gar nicht, ich werde es am Sonntag ...

Heise: Kann man ja diskutieren, genau.

Dorn: Am Sonntag werde ich es wissen, er sitzt zusammen mit dem großartigen schottischen Autor John Burnside, mit den bereits genannten Kolleginnen
Sibylle Lewitscharoff und Felicitas Hoppe auf einem Podium, wo ich bewusst vier Autoren, vier Kollegen eingeladen habe, die alle nicht dem Realismus anhängen und trotzdem sehr, sehr unterschiedliche Arten von Literatur produzieren. Und ich bin gespannt, ob Clemens Setz, den man jetzt ja auf den ersten Blick, wenn man diese blöden Schubladen aufmachen will, doch eher für einen postmodernen Autor halten kann, ob der tatsächlich auch sagen würde – so wie Felicitas Hoppe, die das von sich selber sehr gerne zugibt, dass sie im Herzen eine Romantikerin ist –, ob er das auch sagen würde oder ob er sagt, nein, die Art von Wirklichkeitsüberschreitung, die er in seinen Büchern macht, hat mit der blauen Blume und den verzauberten Nachtigallen gar nichts mehr zu tun!

Heise: Also, auch Selbsteinschätzungen von Schriftstellern sind gefragt! Groteske, Magie, Traumwelten, Grenzüberschreitungen, auf jeden Fall ein spannendes Programm, das Thea Dorn für das Forum Autoren zusammengestellt hat. Frau Dorn, vielen Dank für das Gespräch! Und ich wünsche Ihnen, ja, interessante Tage auf dem Münchner Literaturfest!

Dorn: Herzlichen Dank!

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