Auf der Suche nach dem Ego

01.04.2013
Die Biografie des Theologen Schorlemmer ist mit über 500 Seiten zwar äußerst lang geraten, aber auf keiner Seite langweilig. Er schreibt über sein Leben, bekennt sich zu seinem Glauben und legt mit dem Buch auch sein politisches Manifest vor. Damit will er manchmal zu viel.
"Friedrich steh auf! Die Russen sind in Prag einmarschiert."

Mit diesen zwei Sätzen wird der 24-jährige Friedrich am 21.August 1968 von seinem Vater geweckt. Weiter unten heißt es:

"Ich werde sein!, tönt die Hoffnung. Ich bin!, klirrt die Wirklichkeit. Und du stehst dazwischen, suchst fiebernd den Brückenschlag"."

Gleich auf den ersten Seiten werden die Grundakkorde angeschlagen, die durch alle 518 Seiten klingen, durch die Lebensgeschichte eines fast 70-Jährigen, der Pfarrer, Bürgerrechtler, politischer und Umweltaktivist, Publizist, Vortragsreisender, sprachmächtige Prediger und Redner war und ist.

Eine Autobiographie, die zugleich politisches Manifest für eine Freiheit ist, die untrennbar auf individuellen und sozialen Menschenrechten beruht, und christliche Bekenntnisschrift ist für ein in der Welt verankertes Christentum, das sich doch nicht mit der Welt gemein macht, ein wortgewaltiges Buch des widerständigen Mannes aus dem Osten.

Man hat ihn nach seinem großen geistlichen Vorbild Martin Luther auch die 'Wittenberger Nachtigall' genannt. Ihm ist ein opus magnum gelungen, das den etwas irreführenden Untertitel "Mein politisches Leben" trägt. Denn er will vor allem wissen, wie er zu dem wurde, der er geworden ist. 14 Kapitel lang ist er auf der Suche.

Friedrich Schorlemmer, der Pfarrerssohn, der als einziger seiner Schulklasse nicht in der FDJ ist, ein Paria, ein Außenseiter, der nicht studieren darf; Friedrich Schorlemmer, der Pfarrer, der 1983, im Jahre des 500. Geburtstags von Luther, im Lutherhof zu Wittenberg ein Schwert zur Pflugschar umschmieden lässt und Erich Mielcke zur Raserei bringt.

Aber er suggeriert nicht gradliniges Handeln, lässt Widersprüchliches und mutlose Anpassung nicht aus, setzt sich gleichermaßen kritisch mit der Zeit vor und nach dem Mauerfall auseinander.

""Mein Heimatgefilde Altmark stand so verschämt und zerschlissen in der neuen Freiheit – und blühte seither so sehenswert auf. Gierig sogen meine Blicke diese Veränderung auf, die Verschönerung... Aber die jungen Leute verlassen das aufgeschönte Feld... Plötzlich schien Glanz auch Sterilität zu sein, das Individuelle wich neuer Uniformität."

Im Glanz das Elend sehen. Schorlemmer, der unnachgiebig Widerständige, der sich auch in der neu gewonnenen Freiheit kein X für ein U vormachen lässt, der an das Diktum "wie im Westen so auf Erden" nie geglaubt hat.

"Seit das westdeutsche Feuilleton uns richterlich beschied, was von Christa Wolff literarisch wirklich zu halten sei, empfinde ich noch weit inniger, wie groß und wertvoll ihr Werk ist."

11.400 Seiten hat die Stasi über den Staatsfeind Friedrich Schorlemmer angelegt, schamlos und brutal in sein privates Leben eingriffen. Und doch, trotz seines Zorns mahnt er zur Versöhnung.

"Versöhnung braucht Wahrheit und Wahrheit Versöhnung."

Dazu sei die Gauck-Behörde untauglich. Ebenso warnt er vor undifferenzierter Dämonisierung wie vor nostalgischer Beschönigung der DDR,

"die man doch mal endlich zu Grabe tragen" solle.

Und dann diese Sätze:

"Endlich war das Regime auf der Höhe der Zeit: Es stürzte in die Tiefe. Wo es klapprig in die Grube der Geschichte gerutscht war wie in ein lange schon bereites Grab, dort erhob sich jetzt ein stinkender Aktenberg."

Im Satz den Gegensatz mitdenken und erkennen, dialektisch denken, eben wie lebendiges Denken ist, das macht die Stärke und Schärfe dieser ungewöhnlichen Autobiographie aus. Sie ist deshalb kaum einen Augenblick langweilig.

So weltlich es auch auf der großen Mehrzahl der Seiten zugeht, es ist doch das Buch eines Kirchenmannes, eines, der im christlichen Glauben gegründet ist.

"Die geliebte Welt hat Farben, vor denen die wirkliche Welt verblasst. Liebe ist daher eine Gefahr für die wirkliche Welt. Sie offenbart, was aus der Welt werden könnte, wenn es weniger Herrschaft gäbe. Was wir lieben, muss nicht schön sein, aber indem wir es lieben, wird es schön. Klar, das ich jetzt an SIE denke, meine liebste – Kirche."

Gemeint ist hier nicht die Institution, sondern ein Kirchenbau, nämlich die gotische Backsteinkirche in Werben an der Elbe. Hier wurde Friedrich Schorlemmer konfirmiert, getraut, hier waren die Särge der Eltern aufgebahrt.

Was er über "Kirche im Dorf lassen", Kirche als Zufluchts- und Schutzraum, Ort der Versenkung, was er über Beten und Handeln schreibt, dieses Ineinander von Lebensgeschichte und Reflektion ist so tiefgründig wie atemberaubend.

"Je mehr Jahreskreise sich um uns legen – wie ein Schutz, aber auch wie ein Ring, der unseren Atem flacher werden lässt, desto mehr lichten sich jene Nebel, die sich mit den Zeiten zwischen uns und die Kindheit gesenkt ... hatten. Plötzlich, wenn wir nicht nur das Herz, sondern auch die Uhr schlagen hören, ... steht uns unsere Kindheit wieder vor Augen, eine klare Kontur.
Erinnern macht uns bewusst, was uns lenkte, formte, prägte. Die alten Bilder scheinen wieder auf, die verblichen geglaubten Farben leuchten, die verwehten Lieder klingen neu."

Mit seiner Autobiographie hat er sich auf die Suche nach seinem "Ego" begeben, aber – und da setzt die Kritik ein – er bläht es hin und wieder allzu sehr auf, indem das "ich" zum am häufigsten gebrauchten Wort seiner Erinnerungen wird.

Dazu passt, dass er als Pfarrer den Eindruck vermittelt, die friedliche Revolution sei im Wesentlichen den Kirchen zu verdanken, und dass er als bekennender Sozialdemokrat die Sozialdemokratie als die wirksame Kraft gegen jede Form von Totalitarismus empfiehlt.

Lebensgeschichte, christliche Bekenntnisschrift und politisches Manifest, das alles in Einem überfordert wohl. Weniger wäre mehr gewesen für ein Buch, das so erkenntnisreich, lebendig, tiefgründig und oft humorvoll geschrieben ist. Dem Dialog zwischen Deutschland-Ost und Deutschland-West täte es gut, wenn es denn allseits viel gelesen wird.

Besprochen von Anselm Weidner

Cover Friedrich Schorlemmer: "Klar sehen und doch hoffen"
Cover Friedrich Schorlemmer: "Klar sehen und doch hoffen"© Aufbau Verlag
Friedrich Schorlemmer: Klar sehen und doch hoffen. Mein politisches Leben
Aufbau Verlag, Berlin 2012
523 Seiten, 22,99 Euro
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