"Auch die Bibel hat eine Entstehungsgeschichte"

Martin Urban im Gespräch mit Herbert A. Gornik · 17.10.2009
Der Journalist Martin Urban vergleicht sein Buch "Die Bibel" mit Biographien, die von Menschen handeln.
Herbert A. Gornik: Martin Urban war 34 Jahre lang Leiter der Wissenschaftsredaktion der "Süddeutschen Zeitung". Mittlerweile ist die religiöse Sinnsuche, also warum der Mensch glaubt, das Lieblingsthema des Physikers. Jetzt hat er das Buch vorgelegt "Die Bibel. Eine Biographie". Aber können Lebensgeschichten nicht nur Menschen haben? Das wollte ich zunächst von ihm wissen.

Martin Urban: Aber auch die Bibel hat eine Entstehungsgeschichte, eine Wirkungsgeschichte, eine Geschichte von Nebenwirkungen, und zwar nicht nur die Bibel als Ganzes, sondern die einzelnen biblischen Bücher, und insofern durchaus vergleichbar mit einer Biographie, die man von einem Menschen schreibt. Der berühmte Biograph Goethe, Johann Wolfgang von Goethe, hat ja seine Biographie "Dichtung und Wahrheit" genannt. Das kann man auch von der Biographie der Bibel sagen, dass darin Dichtung und Wahrheit zusammenkommen. Und wir müssen lernen, zu erkennen, was die Wahrheit ist, obwohl wir es eigentlich nie begreifen werden.

Gornik: Dem versuchen Sie ja auf die Sprünge zu helfen, ein Paukenschlag jagt den anderen. Eine Ansammlung ist dieses Buch von aus der Theologie durchaus Bekannten – da gibt es ja die Bibelwissenschaft, da gibt es die Genese der biblischen Bücher, da reiht sich eins ans andere: Der Auszug der Kinder aus Ägypten, der fand so gar nicht statt, und in der Bibel gibt es auch keine zehn Gebote, die Propheten, manche biblischen Propheten sind einfach eine Erfindung jüdischer Theologen, die Sprüche Salomos sind nicht von Salomo, Jesus war kein Christ und Paulus und Petrus waren nicht katholisch und Petrus war auch nicht der erste Papst. Warum beschäftigt sich ein Naturwissenschaftler wie Sie, ein theologisch hoch Gebildeter und Interessierter, jetzt damit, was eigentlich die Theologen schon rausgefunden haben?

Urban: Ich hab es so genau nicht gewusst. Ich bin mit der Bibel aufgewachsen, und als ich jetzt den Wunsch hörte meines Verlegers, doch eine Biographie der Bibel zu schreiben, habe ich angefangen, die Theologie genau zu lesen, was die einzelnen Fachleute unter den Theologen wissen, habe aber auch geschaut, was man weiß über Wirkung von Sachverhalten, was man weiß davon, wie im Kopf wir uns Bilder machen, die nicht die Wirklichkeit sind, sondern Dinge in Beziehung setzen, weil es unserer Zeit entspricht, und dass man dieses alles hinterfragen kann. Ich habe nicht gewusst, wie dieser Segen Gottes, Aarons Segen, wirklich zu verstehen ist, den der Pfarrer am Ende des Gottesdienstes sagt: Der Herr segne dich und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über die. Ich hab nicht nachgedacht, was heißt es denn, sein Angesicht leuchten zu lassen. Othmar Keel, der katholische Theologe aus der Schweiz, hat es rausgekriegt: Der Sonnengott war gemeint, der damals nämlich in Jerusalem auch verehrt worden ist.

Gornik: Sie haben aber noch ein darüber hinausgehendes Interesse, Sie sagen, das ist doch eigentlich faszinierend, dass die Theologen so etwas herausgefunden haben und die Kirchen bleiben bei einem ganz alten und damit auch falschen Verständnis. Können Sie für diese These mal ein Beispiel nennen?

Urban: Die Theologen sagen uns, dass die Deutung des Todes Jesu als Opfertod, als Tod für die Sünden der Menschheit, den Gott von seinem eigenen Sohn verlangt, dass dieses eine Deutung ist, die man heute nicht mehr akzeptieren kann, schon dann nicht, wenn man die Bibel genau genug liest, wenn man weiß, dass Jesus gegen den Opferkult am Tempel in Jerusalem aufgetreten ist und sich doch nicht stattdessen selbst opfern wollte. Das sind ziemlich absurde Vorstellungen mit schrecklichen Konsequenzen, dem edlen Tod – früher hieß es mal für Führer, Volk und Vaterland, für die Heimat, für was auch immer.

Dieser Gedanke, Jesu habe sich geopfert, der durchdringt die Kirchengeschichte, alle, auch die schönsten Lieder spielen da eine Rolle. Bei jedem Abendmahl wird gesungen: Christi, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünde der Welt. Und nun kommen Theologen, katholische wie protestantische, und sagen: So ist das nicht. Ich kann mir vorstellen, dass viele Kirchenleute sagen, unser Fundament bröselt ja, wenn das alles so bekannt wird. Ich sehe das falsch.

Ich finde faszinierend auch die Wirkungsgeschichte dieser Bilder und kann mir heute sagen, ja, das war eine patriarchale Gesellschaft, wo es selbstverständlich war, dass auch man sich opferte. Aber heute wissen wir mehr, heute brauchen wir das nicht. Man müsste eigentlich das Glaubensbekenntnis umschreiben. Und das hat nun 2000 Jahre gehalten, da überlegt man sich, ob man so etwas ändern will. Da lässt man lieber die alten Bilder und macht manchmal einen Nebensatz oder erwähnt das, ja, heute wissen wir ja genauer, aber man will nicht drangehen.

Gornik: Wir sähe denn Ihrer Ansicht nach eine angstfreie Kirchentheologie aus, die zum Beispiel auf die Opfertodvorstellung verzichtet? Haben Sie da eine Vision?

Urban: Ja, indem ich mich wieder auf Jesus beziehe. Jesus hat in einer partriarchalen Gesellschaft gelebt, wo der Gott der Juden nicht gerade ein sanfter, sondern ein sehr strenger Vater war, was damals aber ganz üblich war. Und er hat uns ein Gottesbild vermittelt, auch nur ein Bild, aber eben ein Bild, mit dem wir 2000 Jahre lang leben können, indem er sagte: Dieser Gott, zu dem kannst du sagen, Vater unser.

Ein Bild eines Gottes, der will, dass die Menschen vor ihm zumindest gleich sind. Die ganze Entwicklung in den Humanismus hinein, die Vorstellungen von Menschenrechten leiten sich eigentlich von diesem neuen Gottesbild ab. Und da kann man schon auch Vertrauen entwickeln zu einem solchen Gott. Da brauche ich nicht diese finstere, blutige Geschichte vom Opfertod, sondern da habe ich die Hoffnung, dieser Jesus, der kann auch offenkundig nach 2000 Jahren noch etwas wirken.

Gornik: Martin Urban war das. Sein Buch heißt "Die Bibel. Eine Biographie", 384 Seiten, 22,95 Euro, erschienen bei Galiani in Berlin. Martin Urban, herzlichen Dank!

Urban: Danke auch!