"Auch das Unwahrscheinliche kann passieren"

Ortwin Renn im Gespräch mit Ulrike Timm · 14.03.2011
Die regenerativen Energieträger schneiden in der Risiko-Nutzen-Berechnung wesentlich besser als die Kernenergie ab, meint Risikoforscher Ortwin Renn. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit, sie zum Hauptträger der Energieversorgung zu machen.
Ulrike Timm: Was wissen wir, wenn alles schiefgeht? Sehr wenig bis nichts. Das erfahren wir gerade bei den Atomunfällen in Japan, und die Gefahr ist sehr real, dass die Japaner dieses Nichtwissen am eigenen Leibe werden ausbaden müssen. Das Dreifachrisiko Erdbeben und Tsunami und Atomunfall mit Kernschmelze, damit hat niemand auf der Welt Erfahrung. Ich habe vor der Sendung mit dem Risikoforscher Ortwin Renn gesprochen und ihn gefragt, ob denn, wenn dieses Szenario - Erdbeben, Tsunami und Atomunfall – denn auch für Risikoforscher bislang als ein hypothetisches betrachtet wurde, ob denn für dieses Risiko jemals ein Planspiel geprobt wurde.

Ortwin Renn: Also ich glaube, in dieser Reihenfolge wahrscheinlich nicht. Also es gibt in Japan eine ganze Reihe von solchen Szenarien und bei diesen Szenarien ist natürlich auch schon mal das Szenario mit aufgetaucht, dass man zunächst ein starkes Erdbeben hatte, das dann gefolgt wird durch einen Tsunami, und dass es dann sogenannte Sekundärschäden gibt, auch bei Atomkraftwerken dazu, bei Gasleitungen und anderes mehr.

Aber die Szenarien, die ich kenne, und an denen ich teilweise auch selbst mitgewirkt habe, sind insofern anders, als die Zeiträume und die Intensität anders angenommen wurde. Also man hat nicht mit einem neuen Erdbeben gerechnet, dann mit einer nur 10-minütigen bis 15-minütigen Distanz, bis der Tsunami dann kommt, und dann die Sekundärschäden natürlich in besonderem Maße, wie jetzt die beiden Kernkraftwerke natürlich ein Ausmaß erreicht haben, das wir in den meisten Szenarien, zumindest die ich kenne, so als eher unwahrscheinlich eingestuft hatten. Aber auch das Unwahrscheinliche kann passieren.

Timm: Risikoabwägung ist immer der Versuch, Gefahren zu kalkulieren. Entscheiden für Vorgaben zum Beispiel von Kernkraftwerken tut letztlich die Politik. Wie viel Einfluss haben Risikoforscher, wenn man zum Beispiel festlegt, wie stark ein Erdbeben sein darf, das ein Atomkraftwerk aushalten muss?

Renn: Ja, das ist genau die zentrale Frage, Frau Timm. Es ist so, wir als Risikoforscher können nur sagen, was muss man tun, um beispielsweise ein Kernkraftwerk auszulegen gegen eine bestimmte Höhe des Risikos, also beispielsweise ein Erdbeben der Stärke acht oder neun oder zehn.

Es ist auch so, dass es immer dann noch ein Ereignis geben kann, das darüber hinausgeht. Also wir werden niemals sagen können, wir sind gegen alles rückversichert, denn Sie wissen auch, die Erdbebenskala ist nach oben offen, es gibt auch weit über zehn. Das ist extrem selten, aber es kommt vor. Und an irgendeinem Punkt wird es dann absurd, dann kann man sich nicht mehr absichern. Und die Frage, wo der Punkt ist, von dem man ein Risiko als akzeptabel einstuft, es bleibt ja dann ein Risiko. Es ist ja nicht so, dass es dann absolut sicher ist, sondern man sagt, es ist uns so unwahrscheinlich, dass wir diesen Fall in Kauf nehmen, wenn er kommt. Das ist eine politische Frage, und was mich häufig ärgert, ist, dass die Politik diese Frage nicht ehrlich stellt.

Also ich denke, dass wir sehr wohl an manchen Stellen sagen müssen, das ist uns das Risiko wert, aber dann sollten wir da auch ganz ehrlich sein und sagen, wenn es zu diesem Fall kommt, den können wir nicht ausschließen, dann wird auch die Technik aller Voraussicht nach versagen, dann wird es zu einer möglichen Katastrophe kommen, die wollen wir versuchen zu verhindern, aber sie ist nicht auszuschließen, und jetzt ist die Frage, wollen wir das oder wollen wir das nicht, und das können wir nur dadurch beantworten, indem wir fragen, was wären denn die Alternativen.

Und da können Risikoforscher wieder helfen zu sagen, sind die Risiken der Alternativen größer oder kleiner, und dann muss man halt abwägen. Das ist wie bei einem Arzneimittel, wo ich immer Nebenwirkungen habe, die sind bei allen Arzneimitteln der Fall, und je kritischer die Krankheit ist – und Energiehunger ist eine Krankheit der Menschheit –, je größer das also ist, desto mehr Nebenwirkungen müssen wir in Kauf nehmen.

Aber wo dann genau der Schwellenwert liegt, von dem wir sagen, das Risiko akzeptieren wir noch und das akzeptieren wir nicht, das muss in einer politischen Diskussion festgehalten werden.

Timm: Das heißt konkret: In Japan hat man sich entschlossen, das Risiko acht zu kalkulieren – für diese Erdbeben waren die Atomkraftwerke ausgelegt – und das Risiko neun zu ignorieren?

Renn: So ist es. Also man hat deutlich gesagt, wir glauben nicht daran, dass dort, wo die Atomkraftwerke stehen, ein Erdbeben der Stärke neun kommen wird, das war in den letzten 300 Jahren nicht der Fall, also von daher schließen wir das erst mal aus den Betrachtungen aus. Wenn man das ganz klar kommuniziert hätte, wäre das wahrscheinlich besser gewesen, als wenn man immer sagt, sie sind erdbebensicher.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Risikoforscher Ortwin Renn. Herr Renn, nach Tschernobyl hat man auch ziemlich abschätzig argumentiert, na ja das war in der früheren Sowjetunion, Organisation eh schlampig. Dieses Argument – so es je eines war – trifft im hoch technisierten Japan einfach nicht zu, wenn die Japaner was können, dann ist das organisieren und Pläne machen. Das erhöht ja den Angstfaktor noch mal. – Auch den Angstfaktor des Risikoforschers?

Renn: Ja also, was für uns natürlich jetzt auch als Risikoforscher besonders, ja uns sensibel und auch nachdenklich macht, ist, dass in dieser Kombination von hohem Erdbeben und Tsunami eine Situation geschaffen worden ist, die man zwar theoretisch kannte, aber von der man glaubte, dass sie doch hypothetisch sei, also dass sie so selten ist, dass wir uns darauf nicht einstellen müssen. Und ich glaube, man lernt daraus auch, dass es immer wieder Situationen gibt.

Die gleiche wird nicht mehr kommen. Insofern ist also die Diskussion darüber, wie wird jetzt das nächste Erdbeben sein, also glaube ich das ist jetzt nicht entscheidend, sondern dass wir sagen müssen, alle unsere Risikoberechnungen beruhen immer auf ganz bestimmten Annahmen. Das geht auch gar nicht anders, wir müssen irgendwoher den Kontext definieren, und den haben wir vielleicht ein Stück weit zu eng definiert.

Und ich glaube, das ist das, was wir hier auch lernen, dass wir doch sagen müssen, den Kontext, also welche Dinge können wir als relativ stabil ansehen und wie können wir dann darauf kalkulieren. Da müssen wir noch mal nachdenken, dass es immer wieder überraschende Ereignisse gibt, vor allem Kombinationen von Ereignissen, die dann zu Schäden führen, die wir letztlich nicht mehr ingenieurmäßig beherrschen.

Timm: Lassen Sie uns das mal gedanklich übertragen, die Kombination Erdbeben, Tsunami, Störfall wie in Japan ist in diesem Ausmaß in Deutschland eigentlich nicht denkbar, ein so großes Erdbeben, was dann diese Kettenreaktion auch mit auslöst. Wenn man bei uns sich einen "worst case" denken könnte, könnte das sein eine Kombination Terroranschlag, Flugzeugabsturz, Stromausfall und – das meine ich kein bisschen witzig – Glatteis auf den Straßen, sodass die Infrastruktur auch nicht funktioniert, um ja Rettungsmaßnahmen zu treffen. Wird man den Begriff Restrisiko ganz unabhängig vom Land, in dem man lebt, neu definieren müssen?

Renn: Also ich denke, ich habe immer schon das Wort Restrisiko nicht gemocht. Ich meine das kommt ja aus dieser Kalkar-Entscheidung heraus, das ist ja ein relativ neues Wort, was bedeutet, das ist ein Risiko, das man akzeptieren muss. Ich denke, dieses Muss ist problematisch. Die Frage, wie hoch ein Restrisiko ist, also wie hoch das Risiko ist, das man bereit ist einzugehen, um einen bestimmten Nutzen zu haben, ist eine variable Größe, das muss sich jede Gesellschaft fragen und sagen, also das Risiko nehme ich auf oder das nicht.

Es gibt natürlich Kombinationen, bei denen wir heute sagen können, wir können es gar nicht berechnen, was einerseits dann passieren kann. Das kann man sich ausmalen, aber berechnen kann man es nicht. Und die Eintrittswahrscheinlichkeit, dass gleichzeitig ich sage mal Glatteis ist und gleichzeitig ein Terrorangriff und gleichzeitig vielleicht zufälligerweise werden gerade Brennelemente gewechselt, was dann ein sensibler Punkt wäre. Also das kann natürlich passieren, wenn wir dafür die Wahrscheinlichkeit berechnen, ist sie extrem gering, und ich kann Ihnen tausend andere Szenarien geben mit ganz geringer Wahrscheinlichkeit.

Unser Problem ist, dass sie zwar, jede Einzelne davon, extrem gering sind in der Wahrscheinlichkeit, aber es gibt Tausende von ganz unwahrscheinlichen Dingen, von denen eins eintreten wird. Und das ist sagen wir mal für die Risikoforscher das Schwierigste zu überwinden, also von einer Million Dinge, die eine Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million haben, also sehr selten sind, tritt jeden Tag eins ein.

Timm: Wenn Sie heute die Bundeskanzlerin beraten müssten als Risikoforscher, würden Sie die Maßstäbe heute höher legen als vor einer Woche?

Renn: Also ich glaube nicht, dass wir jetzt sagen sollten, die Auslegungsmaßstäbe, die wir haben, sind jetzt plötzlich alle obsolet geworden. Es ist sicherlich noch mal sinnvoll, darüber nachzudenken; ich denke eher, die Lehre muss sehen, dass wir uns fragen wollen: Ist das relative Risiko der Kernenergie es wert, dass wir bei der Laufzeitverlängerung bleiben, und welche Alternativen ergeben sich in diesem Falle?

Geht es, dass wir das mit regenerativer Energie auffüllen können, dann würde ich als Risikoforscher sagen, dann ist eigentlich die Risikobilanz für die Regenerativen besser; würden wir das Ganze aber auffangen dadurch, dass wir neue Kohlekraftwerke bauen, dann erhöhen wir natürlich das Risiko des Klimawandels, da wäre ich dann etwas skeptischer, wenn das sozusagen die Alternative wäre; oder wenn wir als Alternative sagen, dann führen wir halt Energie von außen ein, das ist im Zweifelsfall dann Atomstrom aus Ländern, die noch weniger Sicherheitsstandards haben als wir.

Also von daher müssen wir es immer in dieser Abwägung machen. Absolut gesehen können wir die Frage nicht beantworten, was ist sicher genug, sondern wir können sie nur relativ beantworten: Wenn wir Energie brauchen – und die brauchen wir –, welche Art der Energieerzeugung ist diejenige, bei der die Risiko-Nutzen-Bilanz am besten ist, also den relativ Besten herausholen.

Und ich glaube, da sind wir uns einig, dass die regenerativen Energieträger zumindest auf Dauer in dieser Risiko-Nutzen-Bilanz besser abschneiden als die Kernenergie, sogar wesentlich besser abschneiden, und von daher ist die Notwendigkeit, sie zum Hauptträger unserer Energieversorgung zu machen, groß. Das wollen auch alle in Deutschland und das finde ich gut.

Timm: Ortwin Renn, Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Risikoforschung und nachhaltige Technikentwicklung in Stuttgart, herzlichen Dank für das Gespräch!

Renn: Danke, Ihnen auch!
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