Atmosphäre des Unheimlichen

08.11.2011
Der Schriftsteller Dino Buzzati arbeitete auch als Journalist, Maler und Bühnenbildner. Sein Hauptwerk "Die Tatarenwüste" gilt als ein existenzialistisch geprägter Roman. Jetzt liegt sein Klassiker der italienischen Literatur "Aus Richtung der unsichtbaren Urwälder" in neuer Ausgabe vor.
Irgend etwas geht vor. Die Premierengäste sind in festlicher Stimmung an diesem Abend in der Mailänder Scala, doch vage Umsturzgerüchte machen die Runde. Wer aber stürzt wen? Nicht einmal darüber ist Klarheit zu erhalten. Dennoch befindet man sich in der Scala bald in einem Ausnahmezustand, ja sogar in einem temporären Gefängnis - bis sich im Morgengrauen der Spuk auflöst, jedoch keine wirkliche Befreiung bringt: Die sogenannt gute Gesellschaft hatte sich öffentlich zu genau dem orientierungslosen Narren machen lassen, der sie im Grunde schon immer war. "Panik in der Scala" zählt zu den berühmtesten Erzählungen des italienischen Schriftstellers Dino Buzzati (1906-1972).

Bereits im Jahre 1949 erschienen, ist sie nun in einem von Klaus Wagenbach zusammengestellten Erzählungsband wieder zu entdecken, und siehe da: Es ist das ewige, alt-neue Bunga-Bunga-Italien, wie es auch ohne Berlusconis Eskapaden leibt und lebt - korrumpiert und korrumpierend, voller Grandezza und falschem Pomp, eine Hohlform von dennoch beträchtlicher Flexibilität und trotz allem nicht ganz ohne einen heruntergekommenen Charme.

Die übrigen hier versammelten Erzählungen leben von einem ähnlichen, gemäßigten "Suspens": da ein verwöhnter Großvater, der unwillentlich das Spielzeug seines tyrannischen Enkels zerbrochen hat und sich nun fürchtet, dort ein Geschäftsmann, der nach einer Autopanne in die Nachtmär eines vorgeblich gediegenen Landgasthofs stolpert, oder ein nur angeblich modester ehemaliger Schulfreund, der bald mit schleimiger Dreistigkeit das Familienleben seines früheren Kameraden zu dominieren beginnt. Vieles ist "Als ob" in diesen schnörkellosen, an der Oberfläche ganz korrekt realistischen Prosastücken, und gerade ihre Lakonie lässt immer wieder eine Atmosphäre des Unheimlichen aus den gemütlichen Winkeln des Alltäglichen herausgleiten.

Solitär unter seinen Generationsgenossen und Freund von Albert Camus, hat man Dino Buzzati oft den "italienischen Kafka" genannt. Doch gerade in einer Kurzgeschichte wie "Der Fall Asis Maio" wird das freundliche Fehlurteil offenbar: Am Hofe eines nicht genannten Reichs wissen nicht einmal die Herrschenden, was draußen im Lande vorgeht und was es mit gewissen ominösen "Benachrichtigungen" auf sich hat, während bei Kafka doch das Umgekehrte der Fall ist - das beunruhigende Nichtwissen der Außenstehenden, was da oben im Schloss geplant werden könnte.

Diese Differenz aber beschreibt den entscheidenden Unterschied zwischen autoritärem Regime und bürokratischem Totalitarismus. Gerade das italienisch Operettenhafte und Skurrile von Machtverhältnissen hat in Dino Buzzati seinen unverwechselbaren Chronisten gefunden. Sein beträchtlicher Nachruhm erklärt sich jedoch nur zu geringem Teil aus dem Gesellschaftskritischen.

Die Unruhe dieses bekennend christlichen Autors ging nämlich ungleich tiefer und war von metaphysischer Art, wovon etwa Erzählungen wie "Der Hund, der Gott gesehen hatte" oder "Die Stimme" zeugen. Es ist deshalb schade, ja beinahe ein Ärgernis, dass in diesem Band, der laut Herausgeber doch "zwölf besonders charakteristische" Texte Buzzatis vorstellen möchte, gerade solche Stücke fehlen. Zu einer ersten, längst fälligen Wiederentdeckung eines illusionslosen Menschenfreundes aber taugt dieses (darüber hinaus ansprechend gestaltete) Buch ganz gewiss.

Besprochen von Marko Martin

Dino Buzzati: Aus Richtung der unsichtbaren Urwälder
Aus dem Italienischen von Percy Eckstein, Wendla Lipsius und Ingrid Parigi
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011
141 Seiten, 15,90 Euro
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