Atiq Rahimi: "Heimatballade"

Immer anderswo und haltlos

Buchcover. "Heimatballade" von Atiq Rahimi, im Hintergrund: Eine Straßenszene in der afghanischen Hauptstadt Kabul
Atiq Rahimi: "Heimatballade" © Imago / Ullstein Buchverlage / Montage DKultur
Von Dina Netz · 04.03.2017
36 Jahre nach seiner Flucht aus Afghanistan hat der Prix-Goncourt-Preisträger Atiq Rahimi ein Buch über seine Exil-Erlebnisse und sein Verhältnis zur Heimat geschrieben. "Heimatballade" gibt intime Einblicke in Rahimis Gefühlswelt, sein "Vakuum des Daseins", wie er schreibt.
Atiq Rahimis frühere Romane spielten in Afghanistan, weil, wie er einmal sagte, sein Heimatland für ihn den Terror der Welt symbolisiere. "Heimatballade" ist nun das erste Buch, das sich nicht unmittelbar mit Afghanistan auseinandersetzt. Es ist nur insofern verortet, als dass Rahimi in seinem Pariser Atelier sitzt und auf einen Einfall wartet, wie er ein Buch über sein Exil beginnen soll. Rahimi lebt zu diesem Zeitpunkt seit 36 Jahren nicht mehr in seinem Heimatland.

Schaffensprozess beginnt mit persischem Buchstaben

"Es ist Nacht. Und das Wort ist immer noch abwesend."
Mit solch biblischer Wucht beginnt Rahimi den Bericht über seinen Versuch, Worte zu finden. Rahimi ist systematisch vorgegangen, um sich dem Thema zu nähern, hat Fotos von Menschen, die auf der Flucht sind, an die Atelierwand gepinnt. Aber sein Kopf und das Blatt vor ihm bleiben leer.
Doch dann setzt ein geradezu Proustscher Moment den Erinnerungs- und Assoziationsprozess in Gang: Fast versehentlich zeichnet Rahimi eine geschwungene vertikale Linie auf sein Blatt, den ersten Buchstaben des arabischen und persischen Alphabets, das alif. Von diesem Zeichen aus erinnert Rahimi sich an seine Kindheit, an seine ersten Begegnungen mit Schrift, Kalligraphie, aber auch an die Verhaftung seines Vaters 1973, den Auftakt zu all den Verstörungen, deren Spuren Rahimi in seiner "Heimatballade" nachgeht.
"Ich war immer anderswo", schreibt er. Er gibt zum Teil intime Einblicke in seine Gefühle, die manchmal den Charakter von Konfessionen annehmen, entblößt sich dabei aber nie. Eine Brücke zu seinen Empfindungen bilden ihm seine eigenen "Kallimorphien", wie er sie nennt, "Buchstaben von menschlicher Gestalt", die die Leere verkörpern, die er empfindet und die mit abgedruckt sind. Und diese zarten, flüchtigen Gestalten verdeutlichen tatsächlich vielleicht noch besser als sein Text die Haltlosigkeit, die er nicht in Worte fassen kann.

Zwischen Pathos und Intellektualität

Vor der Intensität der Erlebnisse der Entwurzelung und des Verstummens, die Rahimi beschreibt, vor dem "Vakuum meines Daseins", muss eigentlich jede Literaturkritik ihrerseits verstummen oder kleinlich erscheinen. Dass er Zitate großer Denker aus allen Weltgegenden nur so anhäuft zum Beispiel, wo er all diese Stützen doch gar nicht brauchen würde - geschenkt. Dass sein Bericht zum Teil sehr pathetisch, zum Teil sehr intellektuell wirkt – zwischen diesen Polen schwankt nun einmal offenbar die Rahimische Denkweise.
Rahimi hat sein Buch im Original 2015 herausgebracht. Entsprechend hat er es verfasst, bevor das schreckliche Wort "Flüchtlingskrise" in aller Munde war. Man kann ihm also überhaupt nicht vorwerfen, auf ein gerade virulentes Thema eingestiegen zu sein. Dass sein Buch auf Deutsch nun wie die geschickt platzierte literarische Fußnote zu den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Debatten wirkt, wird dem Verkauf nicht schaden. Dem Buch aber auch nicht, denn es ist über solche verengenden Sichtweisen und Lektüren erhaben.

Atiq Rahimi: Heimatballade
Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze
Ullstein Verlag, Berlin 2017
192 Seiten, 18,00 Euro

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