Astronomische Uhren

Hightech des Mittelalters

1472 wurde die Astronomische Uhr der Marienkirche in Rostock erbaut.
1472 wurde die Astronomische Uhr der Marienkirche in Rostock erbaut. © dpa / stock &people / Bernd Wüstneck
Von Peter Kaiser · 12.11.2017
Allein das Ziffernblatt ist 16 Quadratmeter groß. Vor mehr einem halben Jahrtausend entstand in Rostock ein technisches Meisterwerk, das Menschen bis heute fasziniert: eine astronomische Uhr, die die Bewegung von Sternen und Planeten anzeigt.
Seit mehr als 500 Jahren zeigt die große astronomische Uhr in der Rostocker St. Marienkirche nicht nur die Zeit an, so wie jetzt die volle Stunde. Zugleich kann der Betrachter auch die Bewegung der Sonne und des Mondes verfolgen, sowie der Kalendermonate. Nachvollziehbar sind auch die Bewegungen der sogenannten sieben ptolemäischen Wandelsterne Sonne, Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Im Mittelalter stellte man sich vor, dass diese sieben Sterne um die Erde rotieren.

Ein technisches und künstlerisches Meisterwerk

In der ältesten – noch voll funktionstüchtigen – astronomischen Uhr der Welt treten beim Stundenschlag rechts unterhalb der 16 Quadratmeter großen Uhrenziffernscheibe geschnitzte Apostel aus einer Tür. Sie umrunden Christus, der als Erlöser der Welt oberhalb des Ziffernblattes steht, lassen sich von ihm segnen, und verschwinden dann durch eine kleine Tür links wieder. Der heute fast 90-jährige Manfred Schukowski ist begeistert:
"Ich halte derartige Uhren für das Hightech des Mittelalters. In ihnen fließt an wissenschaftlich-astronomischer und mathematischer Erkenntnis, an handwerklichem Spitzenkönnen von Uhrenbauern, von Künstlern, die die äußere Gestaltung bewältigten, so viel zusammen, das ist Spitze in jener Zeit, in jeder Hinsicht gewesen. Und wenn ich erlebe, wie diese Uhren noch die heutigen Menschen im 21. Jahrhundert faszinieren, dann ahne ich, wie das vor mehr als 500 Jahren, im 15. Jahrhundert gewesen ist."
Manfred Schukowski war lange Zeit als Professor für Didaktik in der Astronomie tätig.
Seit fast einem Vierteljahrhundert gilt seine Leidenschaft der "Hanseatischen Uhrenfamilie", wie er sie nennt. Zu dieser Familie gehören neben den astronomischen Uhren in der Rostocker St. Marienkirche und der Stralsunder St. Nikolai-Kirche noch weitere Uhren aus dem Mittelalter im Ostseeraum.
"Im Dom von Lund, im Dom von Münster – im Zisterzienserkloster Doberan gab es eine solche Uhr, da ist nur noch ein Rest vorhanden. In der Danziger Marienkirche steht die Schwesteruhr, in Wismar und in Lübeck gab es solche Uhren."
Aufgestellt wurden die Monumentaluhren, wie die Astronomischen Uhren auch genannt wurden, meist im Umgang hinter dem Altarraum. Denn die gotische Architektur vor 500 Jahren bot viel Gestaltungsmöglichkeiten und Raum für derartige Objekte. Die Uhren besaßen ein hölzernes Uhrengehäuse mit mehreren Metern langen Frontkanten. Das Ziffernblatt zeigte zur östlichen Kirchenwand, unterhalb der Ziffernblattfront befinden sich bei diesen Uhren oft hölzerne Säulen, zwischen denen eine drehende Datumsscheibe angebracht ist. Dazu kommen noch Apostelrundumgänge.
Besucher betrachten die Kalenderscheibe der Astronomischen Uhr in der Marienkirche in Rostock..Die Kalenderscheibe  von 1885 reicht nur bis 2017. 2018 wird sie deshalb ausgewechselt.
Besucher betrachten die Kalenderscheibe der Astronomischen Uhr in der Marienkirche in Rostock..Die Kalenderscheibe von 1885 reicht nur bis 2017.© dpa / stock &people / Bernd Wüstneck
Die Uhr in der Rostocker St. Marienkirche ist ein original erhaltenes Bauwerk aus dem Jahr 1472. Manfred Schukowski erklärt, warum die Uhr im Mittelalter so wichtig war:
"Sie hatte einen praktischen Zweck – die Uhrzeit für die ganze Stadt anzugeben, denn auf dem Turm befindet sich eine Glocke, die die Stunden schlug. Sie gab mit ihrer Kalenderscheibe wichtige Daten, die für das tägliche Leben in der Stadt und für das kirchliche Leben in der Gemeinde wichtig waren.
Aber sie verkörpert auch biblische Geschichte in ihrer ganzen Gestaltung. Ganz oben Gott in Gestalt von Christus mit den Aposteln, er steht über der Zeit und dem Kosmos, der auf der darunterliegenden Scheibe angezeigt wird, und über dem Menschen und der Erde, die ganz unten auf dem Boden stehen. Hier ist also ein Stück Schöpfungsgeschichte dargestellt."
Doch die Uhren in den Kirchen Rostocks, Stralsunds und anderswo hatten auch einen ganz profanen, alltäglichen Zweck, sagt Pfarrer Hanns-Georg Neumann von der St. Nikolaikirche in Stralsund.
"Diese Uhren sind ja in die Kirchen gekommen, weil die Kirchen der öffentliche Ort schlechthin waren. Hier wurden große Delegationen empfangen, hier fanden die Ratsversammlungen statt, hier wurden die Gesetze verkündet und traten damit in Kraft, und das waren natürlich Räume, die prädestiniert waren für die Aufstellung der Uhren. Die natürlich auch einem großen Repräsentationswunsch entsprachen. Und es ist kein Zufall, dass diese Uhren immer im Chorscheitelpunkt, also am östlichsten Punkt der Kirche errichtet wurden, sozusagen rückseitig zum Hochaltar. Denn der Chorscheitelpunkt, das war der Ort, wo die vornehmste, die einflussreichste Zunft ihre Kapelle hatte. Und wenn die aus ihrer Kapelle heraustrat, hatte sie den Blick auf die großartige Uhr."

Manche astronomisch Uhr wurde im Krieg zerstört

Dann öffnet Pfarrer Neumann die Tür zum Uhrwerkskasten "seiner" astronomischen Uhr aus dem Jahr 1394, eine Arbeit des berühmten Uhrenbauers Nikolaus Lillienfeldt. Tritt man in den kleinen, muffigen Raum ein, so ist hier sehr ruhig. Ganz anders als in der Rostocker Uhr, wo sich alles klingend dreht, hebt und senkt. Seit mehr als 500 Jahren steht die astronomische Uhr in der Stralsunder St. Nikolaikirche. Doch warum wird sie nicht, wie in Rostock, restauriert? Hanns-Georg Neumann:
"Wir haben hier die besondere Situation, das wir hier noch das mittelalterliche Uhr-werk direkt am Ort haben. Wenn jetzt die Uhr in Gang gesetzt würde, könnte ich Ihnen garantieren, nach etwa 50 bis 100 Jahren würde das erste Zahnrad zerbrechen, wir müssten es auswechseln. Und bei sieben Zahnrädern, Sie können es sich ausrechnen, wie lange es dauert, bis wir eben eine völlig neue Uhr dahinter haben, und nicht mehr das originale mittelalterliche Uhrwerk."
Im wenige Kilometer von Rostock und Stralsuns entfernten Bad Doberan gibt es eine weitere astronomische Uhr, ebenfalls von Nikolaus Lillienfeldt erbaut. Martin Heider, Küster am Bad Doberaner Münster, erklärt warum die Uhr nicht mehr funktioniert:
"Heute ist nur noch das Ziffernblatt der Uhr da. Die frühe Zerstörung, die belegt ist, ist schon im 30-jährigen Krieg passiert. Es wird berichtet, dass es ein Kalendarium gab, und einen Apostelumgang. Und die Apostel, Silberfiguren vermutlich, die einen stündlichen Umgang bildeten, die sollen im 30-jährigen Krieg gestohlen worden sein von den kaiserlichen Truppen."
…die unter dem Kommando des Oberbefehlshabers Wallenstein standen. Bedauernd zuckt Martin Heider mit den Schultern. Die große astronomische Uhr hier hatte ebenso wie die in Rostock und Stralsund drei große Zeiger, den Sonnen- und Stundenzeiger, den Mondzeiger und die Sphäre der Tierkreiszeichen. Doch anders als in Rostock und Stralsund, fand hier kein städtisches Leben statt. Der Doberaner Münster war bis zum 16. Jahrhundert die Klosterkirche des Zisterzienser-Ordens Doberan.
"Der gesamte Tagesablauf der Mönche richtete sich nach dieser Uhr. 4 Uhr 20 die Stundengebete der Mönche sagen uns auch etwas vom Tagesablauf, denn sie sind nach den lateinischen Ziffern, also den Stunden der Zeit, abgeleitet. So fand zum Beispiel die Priem nicht nachts um Eins statt, Priem, die erste Stunde des Tages, sondern das war eben nach der temporären Zeitrechnung morgens die erste Stunde bei Tageslicht. Vielleicht morgens um sechs, je nachdem welche Jahreszeit es war."
Heute lässt nur noch das Ziffernblatt etwas von der einstigen Pracht dieser Uhr erahnen, das Uhrwerk wurde 1830 vernichtet. Martin Heider:
"Große Kreise füllen die vier Flächen außer den Ecken, das sind dann die Zwickel die bleiben. Und dort werden Astronomen gezeigt, Herrscher, die irgendwie etwas mit Astronomie oder Astrologie zu tun haben. Zum Beispiel Ptolemäus oder König Alphons der Zehnte von Kastilien. Und das gesamte Ziffernblatt hat eine Höhe von ungefähr 3,70 Meter, und eine Breite von ungefähr 3,20 Meter."

Uhren erinnerten die Menschen an ihre Sterblichkeit

Hat man mehrere Uhren der "hanseatischen Uhrenfamilie" gesehen, zieht es den Betrachter fast automatisch zur einzigen noch funktionstüchtigen Uhr in Rostock zurück. Steht man dann wieder vor ihr, ist vielleicht nicht die angezeigte Zeit das Wichtigste, sondern die vergangene, die Zeit der Kirchen. Und die kirchliche Zeit, meint Christoph Markschies, Professor für Kirchengeschichte an der Berliner Humboldt Universität, geht über die Mechanik hinaus.
"An verschiedenen Kanzeln gibt es noch die Stundengläser, die ja nicht nur den Prediger daran erinnern sollen, im 18. Jahrhundert nach einer Stunde sollte tendenziell Schluss mit einer Predigt sein, sondern auch Menschen daran erinnern, alles steht unter dem Gesetz der Zeit. Wir alle werden einmal sterben müssen. Und das ist eine Pädagogik, die uns daran erinnern soll, dass keine Minute angesichts dieses Endes beliebig ist, sondern alle Minuten geführt werden sollen, jetzt verwende ich eine Formulierung von Martin Luther: 'so, dass man einmal getrost sterben kann.'"
Mehr zum Thema