Assads Methode ist "Zuckerbrot und Peitsche"

Ulrich Leidholdt im Gespräch mit Dieter Kassel · 17.11.2011
"Das ist ein Aufstand der verarmten Landbevölkerung", sagt ARD-Korrespondent Ulrich Leidholdt über die Proteste gegen Syriens Präsidenten Assad. Die Intellektuellen in den Städten hätten nur wenig Einfluss, denn die Straße bestimme den Widerstand.
Dieter Kassel: Schüler, die Parolen an Wände sprühten, gehörten zu den Ersten, die vor acht Monaten anfingen, in Syrien ein Ende des bestehenden Systems zu fordern. Viele von ihnen landeten im Gefängnis, inzwischen sitzen nach unterschiedlichen Schätzungen mindestens 10.000, vielleicht 50.000 Leute, die zu den Aufständen irgendeine Beziehung hatten, in den Zellen der Geheimdienste. Nach offiziellen Angaben der Vereinten Nationen wurden 3.500 Menschen getötet, und ein Ende ist nicht in Sicht. Der November ist bisher der blutigste Monat seit Beginn der Proteste im März.

Ulrich Leidholdt ist Nahost-Korrespondent des ARD-Hörfunks, sein Arbeitsplatz ist eigentlich Amman in Jordanien, im Moment ist er aber in Deutschland und deshalb jetzt bei mir im Studio. Schönen guten Tag!

Ulrich Leidholdt: Tag!

Kassel: Diese Opposition, wie heterogen ist denn die? Ist das, wie wir das auch in anderen arabischen Ländern erlebt haben, eine Gruppe, die eigentlich nur der Wunsch vereint, das bestehende System abzulösen, und sonst nichts?

Leidholdt: Der große Unterschied zu Tunesien, Ägypten, aber auch Jemen ist in Syrien die Tatsache, dass der Widerstand eben nicht von den Großstädten, schon gar nicht von der Hauptstadt ausgeht. Das ist ein Aufstand der verarmten Landbevölkerung. 30 Prozent der Syrer haben schon vor Beginn der Aufstände unterhalb der Armutsgrenze gelebt, das heißt, sie haben weniger als zwei Dollar am Tag zur Verfügung. Und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Menschen zuerst auf dem Lande auf die Straßen gegangen sind. Dann kommt dazu, wir haben eine große Trockenheit auf dem Lande seit Jahren, dort sind die Menschen natürlich in der Regel von der Landwirtschaft abhängig. Trockenheit hat ihre Einkünfte minimiert oder auf null gebracht, und das hat die Menschen zunächst auf die Straßen getrieben und nicht intellektuelle politische Forderungen.

Kassel: Welche Rollen spielen denn unter diesen Umständen dann die Intellektuellen, also Schriftsteller, Künstler, vielleicht auch renommierte Journalisten? Auf wessen Seite stehen die und mischen die sich überhaupt ein?

Leidholdt: Einige schon, aber sie sind nicht der bestimmende Faktor der Opposition. Sie laufen, wenn man es ein bisschen despektierlich sagen will, eher hinterher, die Straße bestimmt diese Aufstände und diesen Widerstand. Es sind keine bekannten Köpfe, das ist auch verständlich. Denn wer bekannt ist, ist sofort eine Zielscheibe der Geheimdienste, und deshalb wechselt eigentlich die Führung, wenn man so will, von Ort zu Ort, von Tag zu Tag, man will eher anonym bleiben.

Der syrische Nationalrat, eine Exilopposition, die sich Anfang September in der Türkei gegründet hat, funktioniert nach ähnlichem Prinzip und ist natürlich in der Situation, dass man vom Ausland aus zwar mehr machen kann, verbal, aber natürlich wenig Einfluss ausüben kann, weil man nicht im Lande ist. Das ist die Krux. Man erzielt relativ viel Anerkennung, weil die Sympathie natürlich auf der Seite der Opposition ist, nur kann das Ausland relativ wenig praktisch tun. Der Syrer und die syrische Opposition sind auf sich alleine gestellt, und in den Großstädten Aleppo und Damaskus profitieren eben sehr viele Leute vom Regime.

Dann gibt es da noch – das sollte man nicht unterschätzen – die Minderheiten. Minderheiten fürchten immer gesellschaftliche Umbrüche, weil sie sehr oft sofort die Zielscheibe von Gegenaktionen sind. Da sind die Christen, die Kurden, die Drusen, die Turkmenen und nicht zuletzt die Alawiten, also die Minderheit, auf die sich das Regime stützt und die mit ihren Leuten die wichtigen Posten in der Armee und Geheimdiensten besetzen. Die Alawiten, eine Abspaltung des schiitischen Islam, der auch Assad und seine Familie angehören, die wissen, es gibt nur Schwarz und Weiß. Entweder, wir setzen mit allen Mitteln unsere Macht durch oder wir werden abtreten müssen, aber mit Gewalt – das wäre Gaddafi hoch zehn.

Kassel: Damit haben Sie darüber gesprochen, wie wenig man vom Ausland aus tun kann. Syrien ist ein Land, das kaum ausländische Journalisten zulässt, auch das ein Unterschied zu den Protesten zum Beispiel in Ägypten und Tunesien seinerzeit. Es gab aber eine Weile lang noch das Goethe-Institut in Damaskus, das ist allerdings auch relativ frühzeitig dann aus Sicherheitsgründen geschlossen worden, und es gab dann heftige Vorwürfe, das sei ein Fehler gewesen. Aber so wie Sie es beschreiben, diese beiden Fakten – die Intellektuellen sind nicht besonders wichtig bei diesen Aufständen und die Aufstände gehen von der Landbevölkerung aus – sind und waren denn dann Orte wie eben ausländische Kulturinstitute überhaupt wichtige Treffpunkte?

Leidholdt: Sie hätten es sein können, denn natürlich ist die städtische Bevölkerung teilweise auch interessiert und informiert an dem, was passiert, und solche ausländischen Institute wie das Goethe-Institut sind natürlich immer Möglichkeiten gewesen, sich zumindest einigermaßen geschützt treffen zu können, dort konnten Informationen ausgetauscht werden. Aufgrund der Regelung des Auswärtigen Amtes mussten eben alle ausländischen Institutionen – nicht nur Goethe-Institut, sondern auch politische Stiftungen – Anfang April schließen und ihr Personal zurückziehen. Es gibt praktisch nur noch die deutsche Botschaft als offizielle Einrichtung in Damaskus. Und Sie haben es schon angedeutet: Der langjährige Leiter des Goethe-Instituts hat eben das als Fehler bezeichnet, seiner Führung und auch des Auswärtigen Amtes. Er meinte, man hätte da länger Flagge zeigen müssen, die Briten haben es beispielsweise getan.

Kassel: Wir reden im "Radiofeuilleton" im Deutschlandradio Kultur heute mit Ulrich Leidholdt, ARD-Nahostkorrespondent, eigentlich operiert er von Amman, von Jordanien aus, ist in Deutschland jetzt. Reden wir mal, wenn wir übers Ausland reden, Herr Leidholdt, nicht gleich über die Europäische Union, über Nordamerika, vielleicht gleich aber auch über Russland und China, reden wir erst mal über die arabische Welt. Die Arabische Liga hat das Verhalten der syrischen Regierung ausdrücklich verurteilt, nicht nur in Worten, es gibt eine jetzt über Assad schwebende Suspendierung. Hat das was verändert, weil das ist ja doch ein Novum, Syrien, immerhin Gründungsmitglied der arabischen Liga, ist nun wirklich von dieser Liga ja ausdrücklich zu einem – ich sag’s mal ganz vorsichtig – anderen Umgang mit der Opposition aufgefordert worden.

Leidholdt: Ja, aufgefordert worden ist Assad ja schon vielen Seiten, und das kann man gar nicht mehr zählen, wie oft das passiert das, das lässt ihn relativ kalt. Ich glaube, dieses Votum der Arabischen Liga, die eigentlich immer als zahnloser Tiger galt in der 66 Jahren ihres Bestehens, trifft ihn schon. Nicht direkt, aber politisch-moralisch. Das hätte er, glaube ich, nicht erwartet, dass es so weit kommt. Es bewirkt nicht unbedingt etwas, und die Arabische Liga hat sich ja lange sehr zögerlich gezeigt, überhaupt zum Thema Syrien Stellung zu nehmen. Kein Wunder eigentlich, denn was will die Opposition? Sie will mehr Mitspracherecht. Ich will das Wort Demokratie nicht benutzen, weil da stellt sich jeder was anderes drunter vor, und im Nahen Osten ist man ja gerade erst dabei, sich ranzutasten an den Begriff.

Aber man kann das sicherlich subsumieren unter dem Begriff: Man möchte mehr mitreden können, man möchte sein Schicksal in eigene Händen nehmen können und dafür nicht bestraft werden. Und das ist ja auch etwas, was unterschwellig beispielsweise in den Monarchien am Golf gefragt sein könnte. Im Moment wird mit viel Geld auch vieles verdeckt, aber die Gesellschaften werden alle die Fragen stellen, die jetzt sukzessive in den einzelnen arabischen Staaten gestellt werden, und davor haben die Herrscher natürlich Angst. Wenn man in Syrien, wenn man in Ägypten und Tunesien dem Volk mehr Rechte zubilligt, dann geht das auch im Schneeballsystem weiter. Und deshalb ist man sehr vorsichtig in Aktionen gegen Staaten wie Syrien, man könnte ja selbst irgendwann betroffen sein.

Kassel: Sie haben ein wichtiges Stichwort da jetzt noch genannt, nämlich die Möglichkeit, das Ganze mit Geld, mit Wohltaten ein bisschen wieder zu beruhigen. Gaddafi hat das versucht in Libyen, das hat nicht geklappt, die Golfstaaten fahren damit ja seit Jahren eigentlich recht gut, auch jetzt während des sogenannten arabischen Frühlings. Warum tut Assad einfach nicht das? Weil Sie haben ja schon beschrieben, es ist die verarmte Landbevölkerung, von der die größte Kraft ausgeht.

Leidholdt: Es war eine der ersten Aktionen im März von Assad, sofort die Gehälter der staatlich Bediensteten zu erhöhen und die Subventionen auch zu stärken, ihnen Zuschüsse für Kerosin im Winter zur Verfügung zu stellen. Das ist ja eine beliebte Methode von repressiven Systemen, die einen bürokratischen Wasserkopf haben. Diejenigen, die den Staat ausmachen, zu subventionieren, damit sie bei der Stange bleiben. Das wird nicht ziehen, auch die Zugeständnisse – Aufhebung des Ausnahmerechts, Demonstrationen zulassen, Pressefreiheit – alles angekündigt, aber nichts umgesetzt. Das ist eigentlich die Methode Assad: Zuckerbrot und Peitsche. Irgendwas versprechen, und wenn das Volk dann nicht so reagiert, wie das System es will, zuschlagen.

Und deshalb glaubt die Opposition diesem Regime, diesem System nicht mehr, deshalb –- und das ist das Problem, wenn mal danach gefragt wird, wie könnte das Ganze denn mal positiv ausgehen? Es gibt eigentlich keine denkbare Lösung dieses Problems im Dialog. Verhandlungen zwischen Opposition und Regime würden ja, wenn sie positiv verlaufen, am Ende einen Kompromiss bedeuten. Die Opposition sagt aber glasklar, mit diesem Regime, nach allem, was passiert ist, kann es keinen Kompromiss geben, das muss weg. Das Einzige, worüber wir bereit sind zu sprechen, ist die Übergabe der Macht und zwar komplett.

Kassel: Ist denn die Angst, die ja viele haben, vielleicht nicht immer offen ausgesprochen, auch viele im Westen, vor allem Chaos, das ausbrechen könnte, wenn Assad wirklich weg ist, berechtigt?

Leidholdt: Das hat Assad sogar selbst gesagt, und da ist ihm sicherlich beizupflichten. Wenn das Ausland eingreift, um dieses Problem zu beseitigen, dann gibt es einen Flächenbrand in der Region. Man muss sich ja nur mal angucken, wer Nachbar ist von Syrien. Da ist auf der einen Seite Israel und auf der anderen Seite der Irak, das sagt im Grunde schon alles. Hier wäre ein unkalkulierbarer Flächenbrand, der sich noch weiter ausweiten kann, eigentlich nicht mehr zu verhindern.

Und Assad schürt auch die Angst seiner Bevölkerung, indem er immer wieder sagt, schaut doch mal ins Nachbarland, wollt ihr so was wie im Irak, seit dem Sturz Saddam Husseins 170.000 zivile Tote, und einen ständig ethnisch-religiösen Bürgerkrieg, der praktisch täglich Anschläge erwarten lässt. Und wir haben ja auch heute noch fast neun Jahre nach dem Einmarsch der US-Armee im Irak pro Monat 250 Gewalttote im Irak. Und so was droht dann auch möglicherweise in Syrien, und das möchten die Menschen nicht. Sie haben schlichtweg Angst vor dem, was nach Assad kommt. Sie mögen ihn nicht, in der Mehrheit, natürlich nicht, aber viele, die ihn nicht mögen, sagen: Ich weiß doch nicht, was danach kommt, wenn das noch schlimmer ist, dann lieber noch weiter mit Assad.

Kassel: Ulrich Leidholdt, Korrespondent des ARD-Hörfunks im Nahen Osten mit Büro in Amman im Gespräch im Deutschlandradio Kultur über die ja fast ausweglose Lage in Syrien und die Hintergründe zu den Aufständen. Herzlichen Dank für das Gespräch!

Leidholdt: Bitte schön!
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