Asma Lamrabet vom Zentrum für Frauenstudien im Islam

"Die Frage des Kopftuchs nenne ich eine kollektive Hysterie"

Frauen mit unterschiedlichen Verschleierungen
Eine Frau, die ein Kopftuch tragen will, soll das tun, sagt Asma Lamrabet. Es dürfe ihr aber nicht von anderen vorgeschrieben werden. © AFP/imago&stock
Asma Lamrabet im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 11.12.2016
Keine Frau ist laut Koran gezwungen, Kopftuch zu tragen - davon ist Asma Lamrabet, Leiterin des Zentrums für Frauenstudien im Islam in Marokko, überzeugt. Überhaupt sei der Prophet Mohammed wesentlich frauenfreundlicher gewesen als es heutige Interpretationen nahelegten, meint sie.
Anne Françoise Weber: Asma Lamrabet ist eine marokkanische Ärztin, die die muslimische Theologie für sich entdeckt hat. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher, in denen sie einen muslimischen Feminismus und eine neue Lesart des Koran propagiert - leider wurde bislang keines der Bücher ins Deutsche übersetzt, aber auf Französisch und Englisch kann man sie lesen. Seit 2005 ist Asma Lamrabet Leiterin des Zentrums für Frauenstudien im Islam, das bei einem staatlichen Islamgelehrtenrat in Rabat angesiedelt ist.
Mit christlichen und jüdischen Theologinnen zusammen sucht sie nach Gemeinsamkeiten in der feministischen Auseinandersetzung mit den monotheistischen Religionen. Ich konnte Asma Lamrabet bei einem Deutschlandbesuch interviewen und habe sie zunächst gefragt, warum sie sagt, der Prophet Mohammed sei Feminist gewesen.
Asma Lamrabet: Ich denke, das Konzept des Feministen existierte damals noch nicht. Aber man kann sagen, dass er die Traditionen in Bezug auf Frauen ein Stück weit umgestoßen hat. Den Kriterien der feministischen, auf Frauenrechte bezogenen Theorie nach hat sich der Prophet Mohammed damals wirklich für die Rechte von Frauen eingesetzt.
Weber: Zum Beispiel im Bezug auf das Erbrecht ?
Lamrabet: In Bezug auf viele Rechte. Da Sie das Erbrecht erwähnen - in der Zeit vor dem Islam konnten Frauen nichts erben, ich glaube, das war damals Teil der gesamten menschlichen Zivilisation überhaupt. Frauen gehörten sogar zu den Gütern, die die Männer erben konnten. Sie zählten zur Kriegsbeute. Was ich die Revolution des Islam und des Propheten nenne, ist die Tatsache, dass die Frauen jetzt erben konnten.
Es gibt verschiedene Koranverse zum Erbe. Der erste besagt, dass der Besitz einer Familie gleich verteilt werden sollte. Andere Verse kamen später dazu, die ich in den sozialen Kontext der Zeit stelle, denn der Koran musste auf die Stammestraditionen eingehen. Und dazu zählte, dass der Mann, also der Ehemann oder der Bruder, da er in den Krieg zog, da er die physische Kraft hatte, verantwortlich war für den wirtschaftlichen Unterhalt der Familie - wie in allen Gesellschaften zu jener Zeit.
Deswegen hat der Koran, nachdem er zuerst eine gleiche Aufteilung gefordert hat, das korrigiert und der Frau nur die Hälfte des Erbes zugesprochen, das der Mann erhält. Warum? Weil der Bruder nach dem Tod der Eltern seine Schwester komplett versorgen muss. Das ist ein Vers, dessen Inhalt ich heute ungerecht finde. Aber er ist mit seinem Ziel für die damalige Zeit gerecht, weil der Bruder sich um seine Schwester kümmert. Heute fordern Feministinnen in den muslimischen Ländern das gleiche Erbteil, weil die Frauen heute arbeiten und die Brüder sie nicht mehr versorgen. Den Männern fehlen die Mittel, sie können das nicht mehr, und die Welt hat sich verändert. Wenn man das Ziel dieses Verses respektiert, nämlich die Gerechtigkeit, bleibt man auch innerhalb der Vorschriften des Islam. Das gleiche Erbe für Frauen zu fordern, sollte heutzutage in den muslimischen Ländern nicht mehr tabu sein.

"Mohammed hat Frauen ermutigt, sich zu beteiligen"

Weber: Einem Hadith zufolge hat Mohammed gesagt, Gott habe ihn auf dieser Welt die Frauen und die Parfums lieben lassen, und dass das Gebet sein Augapfel sei. Einerseits ist das natürlich sehr galant, wahrscheinlich auch revolutionär für seine Zeit, Sie haben das schon angedeutet - aber ist es aus feministischer Sicht wirklich eine Ehre für Frauen, auf die gleiche Ebene wie Gegenstände gestellt zu werden, selbst wenn es sich um so Kostbares handelt wie Parfum? Als ebenbürtiges Gegenüber erscheinen Frauen da doch nicht.
Lamrabet: Ja, auch da muss man den Hadith, oder den Ausspruch des Propheten im Kontext sehen. Wenn man die ganze Geschichte des Propheten sieht, seine Pädagogik, seine Beziehung zu den Frauen, dann versteht man, dass er sie nicht wie Objekte gebraucht hat. Denn er hat sie ermutigt, hinaus zu gehen, sich am politischen und gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Er hat gemischte Moscheen geschaffen, die Frauen aufgefordert, sich zu den Männern zu gesellen, während man heute Frauen sogar den Zugang zur Moschee verbietet. Wenn man diesen Ausspruch isoliert nimmt, kann man ihn natürlich auf unterschiedliche Weisen lesen.
Man kann ihn tatsächlich als Galanterie lesen, wie Sie sagen: Das ist zwar ganz hübsch, aber das ist eine Verdinglichung der Frauen. Aber wenn man das in den Kontext der Zeit stellt, als die Männer sehr hart mit den Frauen umgingen ... - und bis heute ist die Stammeskultur Saudi-Arabiens, der arabischen Halbinsel sehr machistisch und wertet die Frauen ab. Und wenn der Prophet im Gegenteil den Frauen den gleichen Stellenwert gibt wie dem Gebet - wir kennen ja die Bedeutung des Gebets in der Spiritualität - dann ist das keine Galanterie, sondern etwas sehr Schönes. Er vergleicht also die Frauen mit der Spiritualität.
Weber: Sie erwähnen die machistische Kultur, das ist ja ein Bild, das viele Menschen vom Islam haben. Wie konnte es passieren, dass bei diesem Religionsgründer, der so offen für die Frauen war, eine doch so machistische Kultur herausgekommen ist?
Lamrabet: Ja, wir vergessen, dass leider alle religiösen Kulturen frauenfeindlich sind. Das macht die Interpretation. Mehr als 90 Prozent der Interpretationen aller Religionen sind patriarchal, denn sie wurden von Männern gemacht. Männern, die das Monopol des Heiligen haben wollten, denn das bedeutet Macht. Und die autoritäre Macht heute in der Kirche, bei den Rabbinern und den Imamen ist sehr schwer zu verhandeln oder sich wieder anzueignen. Mit der Säkularisierung im Christentum und im Judentum wurden die Gewalten ein Stück weit geteilt, im Islam ist das leider nicht passiert mit all der politischen Instrumentalisierung des Religiösen. Und mit dieser patriarchalen Interpretation und dem Religiösen als unvermeidlicher Bezugsgröße entsteht dieses Bild des Machismus. Dabei liegt der wahre Grund in einer patriarchalen Kultur und eben nicht in der spirituellen Botschaft.

"Unsere Position ist noch eine Minderheitenposition"

Weber: Sie sind seit fünf Jahren die Direktorin des Zentrums für Frauenstudien im Islam innerhalb der Rabita Mohammadia des Oulémas du Maroc, also der Muhammad-Gesellschaft der Schriftgelehrten Marokkos. Selbst wenn die Ouléma in Marokko als liberal gelten - sind Sie mit Ihren Frauenstudien dort wirklich anerkannt?
Lamrabet: Das ist tatsächlich eine Besonderheit in der arabisch-muslimischen Welt - zum ersten Mal hat eine theologische Einrichtung ein Zentrum für Frauenstudien im Islam eingerichtet. Mehr noch, ich leite dieses Zentrum, obwohl ich keine traditionelle theologische Ausbildung habe, keine Gelehrte bin. Aber dieser neue weiblich-feministische Ansatz, dieses neue akademische Herangehen an die Texte hat einigen reformistischen Gelehrten gefallen, darunter der Generalsekretär dieser Institution. Er fand, dass das EIN Weg unter anderen ist, um heute das ganze Reformdenken im Islam zu erfassen.
Ich kann nicht sagen, dass alle einverstanden sind, es ist noch eine Minderheitenposition. Aber die Stärke Marokkos liegt darin, dass die Diskussion stattfindet, auch wenn man sich nicht einig ist. Es gibt Dinge, über die man vor zehn Jahren noch nicht sprechen konnte und über die man heute diskutieren kann - das ist schon mal etwas.
Weber: Sie haben es selbst gesagt: Sie haben keine traditionelle theologische Ausbildung, Sie sind Ärztin und praktizieren auch im Kinderkrankenhaus von Rabat. Sie haben auch keine besonders vertiefte religiöse Erziehung zuhause genossen. Was hat Sie dazu gebracht, sich so auf die koranischen Texte zu beziehen?
Lamrabet: Das ist erstmal eine Frage einer inneren Suche. Ich habe mich irgendwann nach dem Sinn meiner Kultur, meiner Identität, meiner Religion gefragt. Ich war gläubig, mit diesem inneren Glauben, den man nicht praktiziert und den wir im Islam "Fitra" nennen, aber ich mochte zugleich die traditionelle frauendiskriminierende Kultur nicht. Ich hatte diese Stärke eines neugierigen, kritischen Geistes und habe mir gesagt: Meine Religion kenne ich wirklich nicht gut. Ich werde selbst nachschauen, was der Koran, die Aussprüche des Propheten und die Islamwissenschaften sagen, denn ich hatte keine Lust, von irgendjemandem Lektionen erteilt zu bekommen. Ich war nicht der Frauentyp, um von irgendjemandem Vorschriften zu erhalten: Gott sagt das, deswegen musst Du es tun und dazu schweigen.
Das hat mich dazu gebracht, meine Forschungen sehr weit zu treiben. Ich war sehr erstaunt, wie groß der Unterschied ist zwischen dem, was der Koran sagt und nicht sagt und dem, was man in ihn hineinliest und was man uns jahrhundertelang als nicht zu diskutierende Gebote präsentiert hat. Ich glaube, wichtig ist nicht, ob man gläubig ist oder nicht, sondern kritisch zu bleiben. Natürlich muss man die Glaubensüberzeugungen der anderen respektieren, aber auch wenn man gläubig ist, kann man kritisch sein und sich immer wieder in Frage stellen.

"Strebe nach einer Gesellschaft, in der alle Religionen und Nicht-Religionen akzeptiert werden"

Weber: Sie bezeichnen sich als zutiefst laizistische muslimische Feministin. Wir haben schon über den Feminismus geredet - erklären Sie uns jetzt, was laizistisch heißt. Verstehen Sie darunter eine völlige Trennung von religiöser Sphäre und öffentlicher Sphäre, wie man das in Frankreich praktiziert - sicherlich weniger in Marokko - oder ist das nur Ausdruck, dass Sie einen politischen Islam ablehnen, der eben in der Politik religiöse Vorschriften einführen will?
Lamrabet: Das ist alles kompliziert und lässt sich nicht in einem Satz beantworten. Ich versuche, es zu erklären. Laizität verstehe ich als neutralen Raum, in dem alle Religionen respektiert werden. Als muslimische Frau und marokkanische Bürgerin strebe ich danach, in einer pluralen Gesellschaft zu leben, in der alle Religionen und auch Nicht-Religionen akzeptiert werden. Für mich ist das das richtige Verständnis von Laizität. Unser Kontext heute ist ein anderer: In Marokko haben wir einen König, der Oberbefehlshaber der Gläubigen ist und heute einen wichtigen Schutzwall gegen den politischen Islam darstellt.
Der ist eine Ideologie, die nichts mit dem spirituellen Islam zu tun hat und die Gesellschaft jetzt schon seit Jahrzehnten unterminiert, wie man in allen arabisch-muslimischen Ländern beobachten kann. Dass wir keine Laizität haben, sondern einen König, der religiöse und weltliche Befugnisse hat, bewirkt einen Schutz gegen diese politische Ideologie, denn der König entscheidet im religiösen Bereich. Und da er einen gemäßigten und vor allem für die Frauen emanzipatorischen Islam unterstützt, passt uns das. Ideal wäre, in einer Gesellschaft mit einer wirklichen Laizität zu leben, in der alle Überzeugungen respektiert werden.

"Kopftuch zu tragen ist eine spirituelle Wahl, die man Frauen überlassen muss"

Weber: Viele Menschen diskutieren über das Kopftuch - ob sie nun dafür oder dagegen sind, jedenfalls sind die Meinungen da sehr prononciert. Sie selbst haben einen ganz lockeren Umgang damit, Sie sagen, Sie tragen das Kopftuch - so wie jetzt - wenn Sie es eben wünschen. Ist es also vielleicht gar keine so grundlegende Frage, wie viele Menschen denken? Und wie reagiert Ihre Umgebung in Marokko auf diesen Wechsel?
Lamrabet: Also die Frage des Kopftuchs nenne ich eine kollektive Hysterie. Man müsste eines Tages eine psychologische Studie darüber machen. Gut, ich verstehe diese Hysterie auch, nicht nur im Bezug auf den Westen, sondern auch auf unsere muslimischen Gesellschaften. Das ist Ergebnis einer kolonialen Erinnerung, die noch nicht vernarbt ist, und einer politischen Ideologie. Denn wenn wir uns den Koran anschauen, dann ist das Tragen des Kopftuchs all meiner Forschung zufolge keine Pflicht. Es ist eine spirituelle Wahl, die man den Frauen überlassen muss.
Eine Frau zu zwingen oder ihr zu verbieten, das Kopftuch anzulegen, entspringt für mich der gleichen totalitären Logik. Die Wahl der Frauen muss Vorrang haben. Aber manchmal haben sie diese Wahlfreiheit nicht. Man muss auch verstehen, dass heute viele junge Frauen das Kopftuch sehr streng tragen, weil sie sich schuldig fühlen. Oft steckt nicht der Vater oder der Bruder dahinter, da hat man eine ganz falsche Vorstellung. Sie tun es, weil die Mehrheit der Theologen ihnen sagt, es sei nach dem Koran Pflicht. Ich fordere diese Frauen auf, sich das nochmal anzuschauen, sich selbst anzuschauen, dass im Koran unter 6230 Versen nur einer vom Schleier spricht. Und er spricht nicht einmal vom Schleier, sondern er gibt den Frauen einen Handlungsspielraum in einem bestimmten Kontext.
Wenn heute eine Frau das spirituelle Bedürfnis fühlt, ein Kopftuch zu tragen, ist das kein Problem, aber sie soll sich nicht dazu gezwungen fühlen, weil man ihr sagt, dass es eine Pflicht ist und sie sonst in die Hölle kommt. Das klage ich an. Ebenso wie ich anklage, wenn man behauptet, jede kopftuchtragende Frau sei nicht emanzipiert, nicht modern, rückständig. Das sind zwei Seiten einer totalitären Logik.
Weber: Vielen Dank, Asma Lamrabet, Ärztin und Direktorin des Zentrums für Frauenstudien im Islam in Rabat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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