Arzneimittel-Monopole

Wenn lebenswichtige Medikamente knapp werden

Tabletten und Kapseln auf einem Löffel
Viele Patienten sind verunsichert, wenn ihr Medikament nicht lieferbar ist. Das führt nicht selten zum Therapieabbruch. © picture alliance / Hans Wiedl
Von Anja Schrum und Ernst-Ludwig Aster · 12.03.2018
Apotheker und Ärzte schlagen Alarm: Immer häufiger kommt es zu Engpässen bei Medikamenten, auch bei solchen gegen lebensgefährliche Krankheiten. Die Versorgung ist oft von einem einzigen Hersteller abhängig. Der Staat sieht bislang zu.
Mitarbeiter sortieren Medikamentenpackungen, legen die Schachteln in große blaue Plastikkisten, verstauen diese in Regalen. Arzneimittel-Nachschub für das Universitätsklinikum Jena. Mehr als 52.000 Patienten werden hier pro Jahr stationär behandelt. Dass sie die notwendigen Medikamente erhalten, darum kümmert sich Professor Michael Hartmann. Er leitet die Krankenhausapotheke.
"Es ist oft so, dass wir bestellen. Und dann bekommen wir das Medikament, was wir bestellt haben nicht. Wir bekommen eine kurzfristige Nachricht, dieses Medikament ist zurzeit nicht lieferbar."
In seinem kleinen Büro versucht der Chef der Klinik-Apotheke jeden Tag Nachfrage und Angebot in Einklang zu bringen. Freitags dann verschickt er eine E-Mail an alle Stationen. Mit einer Liste von Medikamenten, die er nicht bekommen hat.
"Ich müsste mal eben in die Liste vom letzten Freitag schauen...Freitag, Lieferengpässe hier, da sehen Sie die Medikamente, die wir aufgeschrieben haben und da sehen Sie die Ersatzprodukte."
Im Schnitt meldet der Pharmakologe jede Woche zwölf Medikamente, die nicht lieferbar sind.
"Eigentlich geht es über das gesamte Gebiet, manchmal sind es Sachen, die einfach sind, da ist eine Kochsalzlösung nicht lieferbar. Die kann ich natürlich austauschen. Kritisch ist es immer, wenn es sich um hochwirksame Medikamente handelt, für die man nur schwer eine Alternative finden kann."

Das passierte in den letzten Jahren häufiger. Krebstherapeutika fehlten ebenso wie Antibiotika:

"Ich bin jetzt seit 1985 Krankenhausapotheker, ich mache dass jetzt schon fast über 30 Jahre und so extrem, wie im letzten Jahr, ist mir das noch nie aufgefallen. Früher hatte man bestellt. Und die Ware wurde geliefert. Und letztes Jahr war es so: Du hast bestellt und hast gehofft, dass die Ware geliefert wird und warst glücklich, wenn sie dann gekommen ist. Jede Bestellung war mit Unsicherheit behaftet."

Ersatzmedikamente haben zusätzliche Nebenwirkungen

Einige hundert Meter weiter, in der Kinderonkologie toben ein paar Patienten über den Flur. Die Köpfe der Kleinen sind kahl, alle werden hier gegen Krebs behandelt. Bernd Gruhn kommt über den Flur, der Professor schäkert mit den Kindern, spricht kurz mit einigen Eltern im Spielzimmer. Gruhn leitet die Station:
"Wir haben schon den Anspruch unseren kleinen Patienten, die allerbeste Therapie zur Verfügung zu stellen. Und wir haben auch in der Kinderonkologie sehr große Fortschritte gemacht. Das ist also eine Riesenerfolgsstory über die letzten 40, 50 Jahre. Und wir wollen natürlich auch diesen Erfolg nicht gefährden, dass wir bestimmte Medikamente nicht zur Verfügung haben."

Bernd Gruhn bittet in einen Besprechungsraum, schließt die Tür. Die Erfolge in der Kinderonkologie haben viel mit den sogenannten "Behandlungsprotokollen" zu tun. Welches Medikament wann in welcher Konzentration gegeben wird, ist dort genau festgelegt. Ein Standard-Zytostatikum in der Kinderonkologie ist zum Beispiel das sogenannte Etopophos, ein Präparat mit dem Wirkstoff Etoposid.

"Der große Vorteil vom Etopophos besteht darin, dass es keinen Alkoholzusatz hat, während in den anderen Ausweichpräparaten, die es gibt, beträgt der Alkoholanteil 24 Volumenprozent. Und dann können sie sich vorstellen, dass das für ein Kind, das eine Chemotherapie bekommt und dazu noch eine toxische Substanz Alkohol, dass das nicht günstig ist. So dass wir das auf jeden Fall vermeiden wollen."
Doch dann war das Krebsmedikament plötzlich nicht mehr lieferbar.

"Das kommt natürlich dann praktisch von heute auf morgen, das kommt dann heutzutage praktisch als E-Mail-Nachricht, und dann sind wir erstmal natürlich geschockt."

Gründe für Engpässe unklar

Im Mai 2016 hatte der Hersteller Bristol Myers Squibb mitgeteilt, mit Wirkung zum August für ein Jahr die Lieferung zu unterbrechen. Als Begründung wurde angeführt, dass neue internationale Arten- und Pflanzenschutzregelungen zu Problemen bei der Grundstoffversorgung führen würden:
"Es wird ja vom Himalayischen Maiapfel hergestellt, aber wie gesagt, die Ausweichpräparate enthalten ja auch den Wirkstoff, der aus dem Himalaya-Maiapfel gewonnen wird, also und da gab es ja gar keinen Engpass bei den Ausweichpräparaten, also es musste schon andere Gründe haben, das kann nicht die Erklärung gewesen sein."

Was genau der Grund für die Verknappung des Medikaments war, das weiß Bernd Gruhn bis heute nicht. Fest steht, dass innerhalb weniger Wochen in Deutschland kein Etopophos mehr zur Verfügung stand. Und auch international war das Mittel nicht mehr zu bekommen. Dem Onkologen blieb nichts anderes übrig, als seinen kleinen Patienten ein alkoholhaltiges, schlechter verträgliches Präparat zu verabreichen:
"Und zwar ist eine gefürchtete Nebenwirkung bei dem Etoposid, der Blutdruckabfall, dass es im schlimmsten Fall auch zu einer Schocksymptomatik kommen kann."

Die Abläufe auf der Station mussten neu organisiert, die Kinder während der gesamten Infusionszeit von einer Schwester beobachtet werden. Gegen die zusätzlichen Schmerzen, ausgelöst durch den Alkohol im Präparat, mussten zusätzliche Medikamente verabreicht werden. Unterm Strich wurde der Organismus der kleinen Patienten so erheblich stärker belastet als bei der Therapie mit Etopophos. Die Eltern erfuhren davon nichts:

"Da ist man natürlich schon zurückhaltend, muss man ehrlich sagen, weil, man will ja, der Patient erwartet ja von uns, dass er die bestmögliche Medizin erhält. Und wir würden es, wenn er danach fragen würde, würden wir ihm die Wahrheit sagen. Aber wir haben das nicht aktiv mit den Patienten kommuniziert, dass er jetzt ein schlechter verträgliches Präparat erhält."

Unsicherheiten bei Produktion in Ländern wie Indien oder China

Ein eisiger Wind fegt über den Friedhof in Berlin-Steglitz. Am Rand ragt ein denkmalgeschützter Wasserturm aus Backstein empor. Hier sind die Redaktionsräume des Arznei-Telegramms. Chefredakteur Wolfgang Becker-Brüser legt die Januar-Ausgabe auf den Besprechungstisch. 16 eng bedruckte, werbefreie Seiten - unabhängige Informationen für Ärzte und Apotheker. Becker-Brüser schlägt die Seite 14 auf. "Weitreichende Lieferausfälle durch Wirbelsturm Maria" ist dort zu lesen:

"In den USA ist jetzt die Situation entstanden, dass der Wirbelsturm Maria, der über Costa Rica gegangen ist, die Infrastruktur zerstört hat, und hatte zur Folge, dass die Firmen, die dort, für die USA banale Infusionslösungen beispielsweise Kochsalzlösungen herstellten, nicht mehr lieferfähig waren, sodass in den USA immer noch solche Infusionslösungen knapp sind."

Das Beispiel zeige, was für Konsequenzen es hat, wenn man nur auf einen Produzenten setzt, sagt der Arzt und Apotheker. Bereits 2011 hatte das Arzneitelegramm über zunehmende Lieferengpässe berichtet. Seitdem habe sich die Situation weiter verschlechtert:
"Es ist inzwischen so, dass der überwiegende Teil der Wirkstoffe und der Präparate, die in Deutschland verkauft werden, im Ausland produziert werden, in Indien, in China. Man rechnet so zwischen 75 und 80 Prozent der Wirkstoffe, das bedeutet, dass die Abhängigkeit von externen Produzenten, die ja zum Teil unter chaotischen Bedingungen produzieren, beispielsweise in Indien, Umweltprobleme gibt es da, Niedriglohn, schlechte Überwachung durch die Behörden und auf solche Produkte setzen wir hier und dann gibt es eben Lieferausfälle und das kann eben ein ganzes breites Bild von Produkten betreffen."

Als im Oktober 2016 ein Ethanolkessel in einer Fabrik in Jinan, im Osten Chinas, in die Luft flog, nahm im Westen davon kaum jemand Notiz. Es dauerte einige Wochen bis klar wurde: Mit der Explosion im Pharma-Unternehmen der Firma Qilu war einer der weltweit wichtigsten Piperacillin-Produzenten ausgefallen. Bereits Mitte Dezember 2016 stand das Antibiotikum hiesigen Krankenhaus-Apothekern so gut wie nicht mehr zur Verfügung. Sie mussten auf sogenannte Reserve-Antibiotika zurückgreifen, die eigentlich nur in Notfällen eingesetzt werden sollen, um eine Resistenz-Entwicklung zu verhindern.
"Bei Krebsmitteln oder Antibiotika ist es so: In der Regel werden die ja nicht von vielen Anbietern hergestellt, von vielen Firmen hergestellt, sondern von wenigen und wenn da etwas fehlt, dann gibt es automatisch einen Versorgungsengpass, weil nämlich dann der Bedarf über weniger Anbieter gedeckt werden muss."

EU-Kommission prüft, ob Missbrauch von Monopol-Stellung vorlag

Doch nicht immer sind Produktionsausfälle oder Qualitätsmängel für Lieferengpässe verantwortlich. Stutzig wurde Becker-Brüser zum Beispiel bei dem Zytostatikum Melphalan. Das Krebsmittel, für das es kaum Ersatz gibt, wird bei Leukämien und Lymphomen eingesetzt und war in den vergangenen Jahren immer wieder nicht lieferbar.

"Die Firma Aspen hat hier von einem Großkonzern GSK bis dahin preiswert angebotene Krebsmittel gekauft und die Preise wollte die Firma Aspen erhöhen und zwar drastisch erhöhen, bis um das 40fache und hat damit beispielsweise Ländern wie Spanien oder Italien gedroht, die Lieferung einzustellen, wenn die Preise nicht bezahlt werden. Und letztendlich hat die Firma schon während der Preisverhandlung schon die Auslieferung gestoppt, sodass es in der Tat zu Lieferdefiziten gekommen ist."

Auch in Deutschland mussten Behandlungen daraufhin verschoben werden. Die Europäische Kommission hat mittlerweile ein Verfahren gegen Aspen-Pharma eingeleitet. Sie prüft, ob der Pharma-Hersteller bei insgesamt fünf Krebsmitteln seine Monopol-Stellung missbraucht hat, um Wucherpreise am Markt durchzusetzen. Becker-Brüser schüttelt den Kopf. Er hat wenig Hoffnung, dass sich die Lage in Zukunft verbessern wird.

"Ich will nicht sagen, dass es heute entspannter ist. Ich glaube, wir gehen damit sehr viel professioneller um."
Sagt Dr. Michael Horn vom Bundesinstitut für Arzneimittel, kurz Bfarm, mit Blick auf die vergangenen zwei Jahre.
"Ich hätte fast gesagt, wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Seit 2016 haben wir ja das Verfahren grundlegend geändert, wir bekommen jetzt sehr viel mehr Informationen direkt mitgeteilt, wenn wir die Lieferengpassmeldung bekommen, wir können praktisch schon mit der Lieferengpass-Meldung ablesen, hat das eine Relevanz oder nicht."
Lange Zeit sah man im Gesundheitsministerium keinen Grund, aktiv zu werden. Doch die Klagen über Lieferengpässe und fehlende Informationen wurden immer lauter. Im Herbst 2016 dann lud das Bfarm als zuständige Bundesoberbehörde erstmals zum Jour Fix in Sachen Engpässe. Seitdem gibt es regelmäßige, vertrauliche Treffen zwischen Behörden- und Ministeriumsmitarbeitern, Vertretern der Ärzte- und Apothekerschaft, Herstellern und Großhändlern.
Gab es zuvor lediglich eine Liste mit freiwillig gemeldeten Lieferengpässen, gibt es nun ein paar mehr Listen. Auf einer finden sich 500 Wirkstoffe, die als versorgungsrelevant eingestuft werden. Auf einer weiteren stehen rund 300, für die es eine Selbstverpflichtung der Hersteller zur Meldung gibt, falls es zu Engpässen kommt. Dann gibt es noch eine Liste mit Wirkstoffen, die als versorgungskritisch eingestuft wurden.

"Auf dieser Liste stehen diejenigen, wo wir entweder nur noch einen In-Verkehr-Bringer, einen endfreigebenden Hersteller oder einen Wirkstoff-Hersteller bei uns im Arzneimittelinformationssystem hinterlegt haben, d.h. wenn wir schon festgestellt haben, es ist ein versorgungsrelevantes Arzneimittel und es fällt jetzt einer von diesen aus, dann ist einfach die Gefahr sehr groß, dass wir tatsächlich in einen Versorgungsmangel kommen und deswegen müssen wir diese Stoffe, die auf dieser Liste stehen eben besonders beobachten."

Keine gesetzliche Pflicht zur Meldung von Engpässen

Derzeit umfasst die Liste der versorgungskritischen Arzneimittel fast 90 Wirkstoffe. Von A wie 4-Amino-2-Hydroxybenzoesäure, einem Antibiotikum zur Tuberkulose-Bekämpfung bis Z wie Zanamivir, einem Grippe-Mittel. Doch wie kann das Bundesinstitut bei einem Engpass konkret eingreifen? Einen klassischen Ablaufplan gibt es nicht, sagt Horn, jeder Fall liegt anders. Wichtig ist aber immer der Faktor Zeit.
"Und wenn wir das ein halbes Jahr vorher wissen, dann haben wir auch Reaktionszeit, um die notwendigen Maßnahmen zu besprechen, also können generische Anbieter die Produktion hochfahren oder können wir empfehlen über den Einzelimport eine gewisse Lücke zu schließen oder können wir von den Fachgesellschaften Empfehlungen erarbeiten lassen, wie alternativ therapiert werden kann, wenn das Arzneimittel mal nicht verfügbar ist oder der Wirkstoff nicht verfügbar ist. Also, wenn wir eine Vorlaufzeit haben, haben wir auch immer gute Möglichkeiten so darauf zu reagieren, dass es gar nicht erst zu einem Problem in der Therapie wird."
Umso verwunderlicher erscheint es da, dass es in Deutschland – anders als etwa in den USA – für die Hersteller keine gesetzliche Pflicht zur Meldung von Engpässen gibt, sondern lediglich eine Selbstverpflichtung. Der wolle man zunächst einmal eine Chance geben, argumentiert Abteilungsleiter Horn.
"Ich sag mal, wenn ein Unternehmer die Selbstverpflichtung nicht ernst nimmt, dann nimmt er vielleicht auch die gesetzliche Verpflichtung nicht ernst."
Das Bundesinstitut wird weiter den Mangel verwalten – und dabei auf freiwillige Informationen der Hersteller angewiesen sein.
"Wir müssen damit leben, dass es immer wieder zu Engpass-Situationen kommt, nur wir müssen sie vernünftig managen."

Engpässe auch in öffentlichen Apotheken

Während ihre Kollegin im Verkaufsraum eine Kundin bedient, beugt sich Anke Rüdinger hinten über ein hölzernes Schubfach. Seit 18 Jahren leitet Rüdinger die Castello-Apotheke in Berlin-Lichtenberg.

"So, das sind die Hänge-Rezepte, die wir haben, also wir sagen dazu Hänge-Rezepte, weil sie halt nicht beliefert werden können."

Anke Rüdinger zieht einen Stapel Rezepte hervor, blättert darin. Lieferengpässe sind längst nicht mehr nur ein Problem der Klinikapotheken.
"Das sind hier so die Sachen, die schon seit Ewigkeiten halt hängen, Ramipril AbZ ist im Moment nicht lieferbar."

Ramipril ist ein ACE-Hemmer, der bei Bluthochdruck und Herzinsuffizienz verordnet wird. Das Präparat des Herstellers AbZ Pharma ist aber derzeit nicht lieferbar.

"Da könnten wir ein anderes Ramipril-Präparat abgeben, die Kunden möchten aber gerne warten, sie haben noch Vorräte zu Hause."
Anke Rüdinger hat das Präparat beim Großhandel disponiert, das heißt, wenn der Handel endlich die gewünschte Ware bekommt, wird es automatisch an die Apotheke geschickt. Der Hersteller hat auch schon einen möglichen Liefertermin genannt. Aber Rüdinger bleibt skeptisch.
"Schaun wir mal, also wir haben das auch oft erlebt, dass zugesagte Liefertermine nicht eingehalten wurden, sondern wieder nach hinten verschoben."
Eine Stunde pro Tag ist die Apothekerin mit ihren Kollegen beschäftigt, um bei Lieferengpässen Alternativen zu suchen.
"Also in der Regel ist es so, dass wir das erst von einem auf den anderen Tag erst erfahren, wenn wir nämlich das Mittel beim Großhandel bestellen wollen und es halt nicht da ist."
Die Präparate landen dann auf einer Defekten-Liste. Defekte – das sind im Apotheker-Jargon nicht lieferbare Arzneimittel. 47 Medikamente sind es derzeit.
Die Erfahrungen von Anke Rüdinger sind kein Einzelfall. Das zeigt eine Umfrage der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker unter mehr als 800 öffentlichen und 50 Klinik- Apotheken. Viele beklagen den gestiegenen Beschaffungsaufwand und die Verunsicherung der Patienten bis hin zum Therapieabbruch.

"Wir haben eine Marktverengung"

"Das ist unser Anti-Engpass-Forte, das ist eine Arzneimittelpackung mit 36 Pfefferminzerfrischungsbonbons drin, zuckerfrei übriges auch."

Bork Bretthauer dreht eine Medikamentenschachtel in den Händen. Erfrischung in Tablettenform als Teil einer Kampagne gegen Lieferengpässe, hergestellt für den Verband "Pro Generika". Bei dem Geschäft mit den sogenannten Nachahmer-Präparaten zählt weniger die pharmakologische Innovation, sondern die rationelle Produktion.
Pfefferminzbonbons als Tabletten verpackt - ein Werbemittel des Pro-Generika-Verbandes
Pfefferminzbonbons als Tabletten verpackt - ein Werbemittel des Pro-Generika-Verbandes© Anja Schrum / Ernst-Ludwig Aster
"Das Generikageschäft lebt davon, dass man nach dem Patentablauf eines Arzneimittels, sofort am Tag eins alles sicherstellen muss, dass die Arzneimittel verfügbar, die Generika in deutschen Apotheken sind, weil der Wettbewerb so extrem und so intensiv ist."
77 Prozent der Arzneimittel, die in Deutschland benötigt werden, stammen von Generikahersteller. Trotzdem klagt die Branche über das deutsche Gesundheitswesen. Der Wettbewerb sei zu hart und trüge so zur Verschärfung der Lieferprobleme bei, sagt Pro-Generika-Geschäftsführer Bretthauer. Seit mehr als zehn Jahren dürfen Krankenkassen sogenannte Rabattverträge mit den Herstellern schließen: Für zwei Jahre schreiben die Krankenkassen ihren Bedarf für unterschiedliche Generika-Medikamente aus. Die Hersteller kalkulieren. Und konkurrieren. Der günstigste Anbieter bekommt den Zuschlag. Dieser harte Wettbewerb führt zu Niedrigstpreisen. Dabei können nur wenige Hersteller mithalten, argumentiert Bretthauer
"Was wir zeigen können in Deutschland ist, dass wir 50 Prozent weniger Unternehmen haben, die an der Versorgung teilnehmen, als noch vor zehn Jahren. Das bedeutet, wir haben eine Marktverengung. Bestimmte Arzneimittel werden nicht mehr von so vielen Unternehmen hergestellt, wie vorher."
Das ist ein Risiko, findet der Pharmaverband. Und fordert, dass zukünftig immer mindestens zwei Unternehmen als Lieferanten benannt werden sollen.
"Wir haben uns die Daten von 2016/17, alle Rabattverträge aller Krankenkassen angeschaut und haben festgestellt, jeder zweite Vertrag ist nicht gegen Engpässe gesichert. Warum? Weil er nur an ein einziges Unternehmen geht, also eine sogenannte Exklusivvergabe, ein Unternehmen muss dann die gesamte Verantwortung für die Versorgung der Versicherten einer Kasse tragen. Wenn das dann ausfällt, kann natürlich kein anderes Unternehmen kurzfristig einspringen."
Nimm zwei. Ein Sicherheitsnetz für die Medikamentenversorgung. Verspricht der Verband. Ein Hauch von Planwirtschaft im Gesundheitswesen. In Deutschland. Während weltweit die Generika-Konzerne mit harten Bandagen um die Vorherrschaft ringen: Zehn Hersteller dominieren den globalen Markt. Ihre Tochterunternehmen arbeiten auch hierzulande. Die weltweite Nummer eins "Teva" ist zum Beispiel gleich mit zwei Töchtern vertreten: AbZ und Ratiopharm. Beide leiden derzeit unter der hohen Verschuldung des Mutterkonzerns. Mehr als 40 Milliarden zahlte Teva 2016 für einen Mitbewerber. Und sitzt seitdem auf einem Schuldenberg.
Zur Konsolidierung kündigte der Konzern Ende letzten Jahres die Entlassung jedes vierten Mitarbeiters und Preiserhöhungen für unrentable Medikamente an. Der deutschen Tochter Ratiopharm wurde kurzfristig die Weihnachtsfeier gestrichen.
"Deutschland kann sich nicht von internationalen Entwicklungen abkoppeln, die Arzneiproduktion ist globalisiert, findet global statt, innerhalb der EU, außerhalb der EU."
Rund um den Globus werden heute Werke geschlossen und eröffnet. Auf der Jagd nach dem profitabelsten Standort wird jeder Kostenvorteil mitgenommen. Medikamentensicherheit hat aber ihren Preis. Argumentiert der Generika-Lobbyist. Mehr Spielraum bei den Rabattverträgen, mehr als einen Lieferanten – das sind die Rezepte der Hersteller gegen zukünftige Engpässe. Was sie selber zur Verbesserung beitragen wollen, bleibt dagegen vage. Eine verpflichtende Vorratshaltung von lebenswichtigen Medikamenten, wie sie etwa in der Schweiz vorgeschrieben ist, lehnt der Verband ab.

Techniker Kasse: "Marktkonzentration ist eine Mär"

Hamburg, die Zentrale der Techniker Krankenkasse. Tim Steimle, leitet hier den Fachbereich Arzneimittel. Rabattverträge verschärfen Lieferengpässe – dieser Argumentation kann er nicht folgen:
"Dieser Vorwurf wäre richtig, wenn es nur eine Ausschreibung für alle Krankenkassen in Deutschland geben würde. Dann wäre dieser Vorwurf richtig, da es aber zig Ausschreibungen gibt und wenn der eine Hersteller bei uns nicht zum Zuge kommt, hat er ja die Möglichkeit bei einer anderen Krankenkasse unter Vertrag zu gehen und genau das sehen wir auch im Markt."

Es gibt keine Konzentrationsprozesse infolge der Rabattverträge, so Steimle. Auch weil die Krankenkassen mit möglichst mehreren Herstellern Verträge abschließen sollen. Und weil es über hundert Kassen gibt.
"Aber das heißt eben nicht, wenn wir Firma A unter Vertrag haben, dass dann Firma B und C sagt: Och, jetzt lohnt es sich nicht mehr, weil 15 Prozent des Gesamtmarktes, den die TK insgesamt darstellt, jetzt schon unter Vertrag wären. Es bleiben dann ja noch weitere 85 Prozent, die dann verteilt werden können. Und diese Marktkonzentration ist für mich eine Mär, die es so nicht gibt."
TK-Vertreter Steimle hat ein anderes Problem: Die Krankenkasse schließt Rabattverträge mit Herstellern ab, die dann aber nicht liefern. Der Patient bekommt ein vergleichbares Präparat eines anderen Herstellers und die Krankenkasse muss zahlen. Mehr zahlen, als nach Rabattvertrag kalkuliert. Die geplanten Einsparungen verpuffen.
"Es fallen eben immer wieder einzelne Hersteller auf und andere weniger, obwohl es sich ja um das Gleiche handelt. Also andere Hersteller können liefern, nur der Hersteller, der unsere Versichertengemeinschaft versorgt, kann halt nicht liefern. Und das muss damit zu tun haben, dass sie sich nicht so intensiv darum bemühen, dass das gut funktioniert."
Bislang haben die Krankenkassen keine wirkliche Handhabe gegen Vertragspartner, die erst niedrige Gebote abgeben, dann aber nicht liefern. Genau das aber möchte die Techniker Krankenkasse ändern: Lieferausfälle sollen den Herstellern künftig richtig wehtun:
"Wenn dieser Lieferausfall teuer wird für den Hersteller, dann ist das eine Kostenposition in dem Angebot, die man berücksichtigen muss, dadurch wird der Rabatt sinken für die Krankenkassen, aber auf der anderen Seite ist das aber ein stärkeres Investment in Liefersicherheit und das ist ein Anreiz, den wir gerne setzen wollen."
Mehr Liefersicherheit, weniger Rabatte – das ist der Deal, der Steimle vorschwebt. Und den er im Sozialgesetzbuch festgeschrieben sehen möchte. Damit die Regelung für alle gesetzlichen Krankenkassen gilt.

Apothekerin sieht Zunahme der Engpässe in letzten Jahren

In der Castello-Apotheke in Berlin-Lichtenberg beugt sich Anke Rüdinger über ihren Computer. 47 Arzneimittel sind zurzeit nicht lieferbar. Darunter etwa Scabioral, Tabletten gegen Krätze. In Frankreich hatte ein Mitbewerber Produktionsprobleme. Internationale Apotheken deckten sich daraufhin auf dem deutschen Markt ein. Nun fehlt das Medikament hierzulande. Patienten können aber immer noch auf Salben zurückgreifen.
"Problematischer ist es z.B. bei Trusopt-Augentropfen in der unkonservierten Form, da gibt es keinerlei Alternative, da muss der Patient entweder die konservierte Form nutzen, was oft nicht möglich ist, weil Konservierungsmittel nicht vertragen werden oder es muss auf einen völlig anderen Wirkstoff umgestellt werden und das ist schon problematisch, sowohl für den Kunden als auch für die Apotheke."
Immer neue Medikamente - für viele, gerade auch ältere Patienten ist die Umstellung nicht so einfach, sagt Rüdinger. Selbst wenn der Wirkstoff identisch ist. Für viele Patienten macht es nun mal einen Unterschied, ob die neue Tablette blau statt weiß.

"Und das führt eben, wie gesagt, zu einer großen Verunsicherung und in den schlimmsten Fällen – und ich glaub, die sind gar nicht mal so selten – zu einem Therapieabbruch."
Anke Rüdinger schüttelt den Kopf. Die Apothekerin hat den Eindruck, dass sich die Problematik im Laufe der Jahre verschärft hat. Langsam, aber stetig.
"Ich meine, das Arzneimittel ist auch keine normale Ware, sondern eine Ware besonderer Art und da müssen auch andere Regeln gelten und ich denke auch, da ist jetzt wirklich auch die Regierung jetzt gefordert, dort Maßnahmen zu ergreifen, um zum einen die Wirkstoffproduktion wieder nach Deutschland zu holen, aber auch die Pharmazeutische Industrie zu verpflichten, einen gewissen Vorrat anzulegen."

"Produktionsstätten zurück nach Europa holen"

"Die Verlagerung der Produktion nach Asien und die Konsequenzen haben wir jetzt am eigenen Leib gespürt in den letzten fünf, sechs, sieben Jahren."

Sagt Professor Wolf-Dieter Ludwig, Leiter der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft.
"Das heißt, wir müssen uns Gedanken machen, wie wir die Produktionsstätten wieder zurück nach Europa holen, oder sogar nach Deutschland. Und dann natürlich auch gewisse Anreize für die pharmazeutischen Unternehmer setzen, dass sie wieder in Europa produzieren, das wird letztendlich natürlich, weil die pharmazeutische Industrie eine ökonomisch orientierte Industrie ist, nur über einen Preisanstieg zu erreichen sein."
Mehr Geld für mehr Versorgungssicherheit. Das ist auch ein Therapievorschlag der deutschen Ärzteschaft. Der aber wird nur funktionieren, wenn alle Beteiligten mit offenen Karten spielen:
"Wir haben eine absolut unzureichende Transparenz, wie viele Produktionsstätten oder wie viele Hersteller es für die bei uns unverzichtbaren Medikamente gibt. Deshalb war auch eine Forderung, dass diese Transparenz deutlich verbessert wird, dass wir ganz genau wissen, wie viele Hersteller diese wichtigen Medikamente überhaupt noch produzieren."
Ludwig plädiert auch für verbindliche Verpflichtungen der Hersteller. Etwa eine Produktions-Garantie für besonders kritische Arzneimittel wie Antibiotika oder Zytostatika. Um die durchzusetzen, fordern Ärzte seit Jahren staatliche Eingriffsmöglichkeiten im Arzneimittelgesetz festzuschreiben. Damit die zuständigen Landesbehörden im Notfall Stilllegungen verhindern und Weiterproduktionen anordnen können.
"Und wir haben eigentlich immer gefordert, diese Eingriffsbefugnisse der Landesbehörden in § 52 des Arzneimittelgesetzes, das die eher verschärft und betont werden, dass das gestrichen wurde, halten wir für eine falsche Entscheidung, weil man muss von politischer Seite Fehlverhalten sanktionieren. Und dazu gehört natürlich auch, dass man gewisse Daumenschrauben zur Verfügung hat."
Passiert ist allerdings nichts. Und so wird die Medikamentenversorgung in Zukunft weiter den Marktkräften und dem Goodwill der Hersteller unterliegen.

Eine Strategie: Die Vorräte vergrößern

Am Uniklinikum Jena eilt Michael Hartmann durch das Lager seiner Krankenhausapotheke. Im Gang stehen zwei Europaletten. Mannshoch beladen mit Antibiotika-Nachschub.
"Das ist jetzt im Prinzip das Piperacillin/Tazobactam, was wir jetzt in größeren Mengen vorrätig haben. Nach der Erfahrung aus dem letzten Jahr, dass wir ja teilweise nicht beliefert worden sind, habe ich gesagt, ok, wir erhöhen unsern Lagerbestand nicht auf zwei, sondern auf vier Wochen, um eben genug zu haben und Zeit zum Reagieren zu haben."
Die Apotheke im Universitätsklinikum Jena wartet auf bestellte Medikamente.
Die Apotheke im Universitätsklinikum Jena wartet auf bestellte Medikamente.© Anja Schrum / Ernst-Ludwig Aster
Sicher ist sicher. Allerdings kann der Apotheker nicht bei allen lebenswichtigen Medikamenten seine Bestände erhöhen.
"Das eine ist eine Platzfrage und die zweite Frage ist: Das Lager ist ja vorfinanziert, das ist ja gebundenes Kapital. Und ich bin ja keine Sparkasse, die da unbegrenzt Geld zur Verfügung hat."
Apotheken und Krankenhäuser sind seit Jahren per Gesetz verpflichtet, Reserven vorzuhalten. Die pharmazeutische Industrie hat es dagegen bis heute geschafft Lagerverpflichtungen abzuwenden.

"Und ich finde, man sollte die Industrie genauso verpflichten, dass sie einen vier Wochen-Vorrat vorrätig halten müssen, damit wir genug Zeit haben zu reagieren, wenn in China eine Fabrik in die Luft fliegt."
Solange das aber nicht umgesetzt wird, muss er versuchen, für sein Krankenhaus auf Nummer sicher zu gehen. Dass etwa das Antibiotikum Piperacillin derzeit wieder lieferbar ist, ist für ihn kein Grund zur Entwarnung.
"Es hat sich ein bisschen normalisiert es wird sich weiter normalisieren aber, tja, man hat schon, wie heißt es so schön, Pferde vor der Apotheke kotzen sehen, und daher habe ich dann auch den Bestand erhöht."
Hartmann nickt, geht zurück in sein Büro. Er muss für seine Ärzte die neue Mangelliste erstellen. Welche Medikamente zurzeit nicht verfügbar sind. Mittlerweile ist das Routine für den Krankenhausapotheker.
"Das ist ein Zustand, den ich vor 30 Jahren, als ich angefangen habe im Krankenhaus als Apotheker zu arbeiten, mir hätte nie erträumen lassen. Dass ich anfange, jetzt nach 30 Jahren, wieder den Mangel zu verwalten."
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