Armenier-Resolution

Halbherzig durchgewunken

Teilnehmer der Demonstration halten ein Schild hoch mit dem Slogan "Der Bundestag ist kein Gericht".
Demonstranten protestieren in Berlin gegen die im Bundestag geplante Armenien-Resolution. © picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert
Von Baha Güngör · 04.06.2016
Der Bundestag hat die Resolution zur Einstufung der Massaker an den Armeniern als Völkermord beschlossen. Dass die Kanzlerin, der Vizekanzler und der Außenminister bei der Abstimmung mit Abwesenheit glänzten zeige, in welchem Dilemma die Realpolitiker stehen, meint Baha Güngör, Autor und ehemaliger Leiter der Türkeiredaktion der Deutschen Welle.
Angeblich hatte die Bundeskanzlerin wichtigere Termine. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass sie mit ihrem Nicht-Erscheinen eine Verschlechterung der Beziehungen zur Türkei vermeiden wollte. Geholfen hat ihr Fernbleiben aber nicht.
Das deutsch-türkische Verhältnis ist nun so stark belastet wie seit vielen Jahren nicht mehr. Ärgerlich, dass der Versuch der historischen Aufarbeitung einer Tragödie im damaligen Osmanischen Reich und das Bekenntnis zu einer deutschen Mitschuld nicht von der tagesaktuellen Politik sauber getrennt werden konnte.
Die heutige Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Imperiums wird das, was in den Jahren 1915/1916 unter maßgeblicher Beteiligung, ja der Federführung des deutschen Kaiserreichs geschah, weiterhin nicht als Völkermord akzeptieren. Vielmehr wird sich das Land an der geographischen Peripherie Europas unter der Herrschaft von Präsident Erdogan von zeitgenössischen Werten weiter entfernen. Zu diesen Werten gehören nicht nur Demokratie und Menschenrechte, sondern auch die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung - auch für die dunklen Kapitel der Geschichte.
Bis auf die pro-kurdische HDP weisen alle anderen Parteien im türkischen Parlament den Völkermord-Vorwurf kategorisch zurück. Sie sind der Überzeugung, dass in den Wirren des Ersten Weltkrieges zwar Hunderttausende Menschen bei Deportationen ums Leben gekommen oder von bewaffneten Gruppen erschossen worden seien. Von einem systematisch organisierten Völkermord könne aber keine Rede sein.
Unabhängig davon, welche Seite nun Recht oder Unrecht hat: Bei aller Einstimmigkeit im Deutschen Bundestag, erscheint die Resolution dennoch nur halbherzig durchgewunken worden zu sein. So richtig überzeugend klangen die Reden der Abgeordneten jedenfalls nicht. Und die Frage, warum diese Resolution gerade jetzt verabschiedet wurde, bleibt unbeantwortet.
Wieso nicht 80 oder 90 Jahre nach dem Massentod der Armenier? Wieso nicht vergangenes Jahr, als am 100. Jahrestag der Tragödie der Opfer gedacht wurde? Vor einem Jahr blieb es bei den Reden von Bundespräsident Joachim Gauck und Bundestagspräsident Norbert Lammert, die beide auf Gedenkveranstaltungen offen von Völkermord gesprochen hatten. Spät, aber nicht zu spät, hat Deutschland die fast vollständige Vernichtung der Armenier sowie der Aramäer und Pontus-Griechen als Völkermord anerkannt.

Erwartete Reaktionen aus Ankara

Wie erwartet hat Staatschef Erdogan reflexartig reagiert. Er warnt, droht, spricht von ernsten Auswirkungen auf die deutsch-türkischen Beziehungen. Über alles andere will er nach seiner Rückkehr von einer Afrika-Reise entscheiden. Der türkische Justizminister spricht von Verleumdung, Ankara beordert sofort den türkischen Botschafter in Deutschland zu Konsultationen zurück. Gleichzeitig wird der deutsche Gesandte ins türkische Außenministerium einbestellt. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim erklärt, die Türkei werde nicht überreagieren und zum Beispiel beim Flüchtlingsdeal mit den Europäern zu ihren vertraglichen Vereinbarungen stehen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Was am Ende auch herauskommen mag, innenpolitisch betrachtet hat Erdogan eine weitere Trumpfkarte zugespielt bekommen, um jetzt neben den religiös-konservativen auch die oppositionellen linken und rechten Nationalisten hinter sich zu scharen. Seinem Lebenstraum, eine demokratisch durchaus einwandfrei legitime Allmacht zu zementieren und das von ihm angestrebte Präsidialsystem einzuführen, ist er jedenfalls ein Stück näher gekommen.
Und die Chancen, dass sich das Land am Bosporus dadurch zu einem demokratischen Rechtsstaat weiterentwickelt, sind noch geringer geworden. Der Umgang mit anders denkenden Journalisten und Wissenschaftlern, die Gleichschaltung der drei Gewalten und seine Art der Reaktion auf europäische Ratschläge sprechen ihre eigene Sprache

Türkei ist nicht nur Erdogan

Jetzt ist sie also da die überfällige Armenien-Resolution. Doch die angeblich angestrebte Unterstützung der Annäherung zwischen Armenien und der Türkei ist nicht mehr als Wunschdenken.
Fakt ist: Deutschland und Europa sind auf eine kooperative Türkei in direkter Nachbarschaft zu internationalen Kriegsschauplätzen angewiesen. Dass die Kanzlerin, der Vizekanzler und der Außenminister bei der Abstimmung mit Abwesenheit glänzten zeigt, in welchem Dilemma die Realpolitiker stehen. Der Vorwurf, dass für die Regierungsspitze realpolitische Interessen über einer moralischen und historischen Verantwortung stehen, darf geäußert werden.
Ratsam wäre es dennoch, wenn die politisch Verantwortlichen in beiden Ländern den Ball so flach wie nur möglich halten. Das deutsch-türkische Verhältnis hat in der Vergangenheit viele Belastungsproben überstanden. Und die Türkei ist nicht nur Erdogan.
Aus dem fernen Argentinien sprach Außenminister Steinmeier die Hoffnung aus, "dass es uns gelingt, die nächsten Tage und Wochen miteinander so zu gestalten, dass es zu keinen Überreaktionen kommt." Man darf gespannt sein, mit welcher Haltung der Chefdiplomat im Auswärtigen Amt in nächster Zukunft auf die Türkei zugehen wird.
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