Architektur der öffentlichen Wirkung

Rezensiert von Nikolaus Bernau · 06.07.2007
Durch den Band "Atlas der zeitgenössischen Architektur" von Alex Sanches Vidiella wird deutlich, dass sich die Sicht auf die Architektur verändert hat. Wie ein Gebäude von innen aussieht oder funktioniert, tritt in den Hintergrund. Wichtiger ist vor allem, wie der Raum beeinflusst wird.
Dicke Handbücher zur modernen Architektur gibt es inzwischen einige, und wenige sind mehr als eine gewichtige Bildersammlung, die repräsentativ herumliegen kann. Auch Alex Sanches Vidiellas Atlas der zeitgenössischen Architektur gehört auf den ersten Blick zu dieser Kategorie: viele, oft ganzseitige Fotos mit sehr kraftvollen Farben, kaum einmal ein Grundriss oder gar eine Schnittzeichnung, aus der man ersehen könnte, wie man das Gebäude benutzen kann, wie es hält, wo die Lasten herkommen und wo sie hingehen.

Diese Oberflächenorientierung ist in diesem Fall allerdings wohl nicht nur Strategie des Verlags - Du Mont zeichnet sich schon seit einigen Jahren durch immer neue und immer gewichtigere Coffetablebooks über Museumsammlungen, Kunstepochen oder eben jetzt zeitgenössische Architektur aus. Die vielen schönen Fassadenansichten sind wohl auch Teile einer Sicht auf die Architektur, wie sie in vielen südlichen Ländern - der Band erschien ursprünglich in Barcelona - durchaus üblich ist: Das wichtige an einem Bau ist nicht, wie er innen funktioniert, wichtig ist, wie der Straßenraum und die Stadt durch ihn beeinflusst werden, also die öffentliche Wirkung. Kaum verwunderlich also, dass das erste Kapitel Infrastrukturbauten und städtebaulichen Kompositionen gewidmet ist Ungewöhnlich wie so oft ist auch hier schon die Auswahl aus dem vielen Gebauten der vergangenen Jahre: Der Berliner Hauptbahnhof, der von der deutschen Presse gefeiert wird wie ein achtes Weltwunder, fehlt, stattdessen kann man so entzückende Sachen wie die aus Stahl und Glas gefertigten Straßenbahnhaltestellen der Linie D in Hannover entdecken. Oder die vielen neuen Platz- und Gartenanlagen, mit denen diejenigen Städte, die das Glück des Meereszugangs oder eines breiten Flussufers haben, diese neu gestalteten .Wasserlagen sind ein Verkaufsargument erster Klasse, dass sieht man auch in diesem Buch.

Im Gegensatz zu den meisten Überblickswerken ist es aber nicht, und auch das erfreut, nach Architektennamen sortiert, also kein illustriertes Adressverzeichnis für mögliche neue Kundschaft, sondern nach Themen: Städtebau, Kultureinrichtungen - wieder zeigt sich an Bauten wie dem Quay Branly von Nouvel, dass Museumsarchitektur immer noch das große Experimentierfeld ist - Freizeiteinrichtungen mit den vielen neuen Sportstadien, die in den letzten Jahren entstanden sind, Geschäftsbauten und Hochhäuser sowie Wohnhäusern und vor allem "Architektur der Zukunft" - worunter, klimadebattengerecht, etwa eine schwimmende Insel ist.

Was allerdings enttäuscht, ist der durch und durch konventionelle Geschmack des Autors. Auch wenn man keineswegs alle Bauten aus Zeitschriften und anderen Handbüchern kennt: Die Leidenschaft für expressiven Nach-Dekonstruktivismus, glatte Glaswände, ästhetisierend-karge Betonoberflächen, zierliche Metallstabkonstruktionen, die ist doch sehr bekannt. Was hingegen vollkommen fehlt, ist die banale Investorenarchitektur, wie sie aber inzwischen immer mehr den Markt beherrscht, ist das städtebauliche Desaster der Vororte - wie kann man heute noch so unkritisch Einfamilienhäuser auf der grünen Wiese, im dichten Wald oder gar in der Wüste von Arizona ablichten? - und vor allem alles, was irgendwie historistisch aussieht. Und doch ist gerade dieses pessimistische Zurück in eine steinern gemauerte, kantige Vergangenheit mit Säulenartigen Pfostenreihen und nettem Giebeldach eine der wesentlichen neuen Entwicklungen der zeitgenössischen Architektur. Und noch etwas fehlt: Die Bubble-Architektur, das Geblase und Gewölbe, dass noch vor zwei, drei Jahren als Zukunft an sich bezeichnet wurde. Nicht einmal mehr Zaha Hadids gemäßigte Variante davon taucht hier auf. Vielleicht ein Hoffnungszeichen, dass sich solche Moden eben auch schnell erschöpfen.

Alex Sanches Vidiella: Atlas der zeitgenössischen Architektur
Du Mont Verlag, Köln 2007
600 Seiten, 49,90 Euro