Architektur begreifen

03.08.2009
Der Hamburger Kunsthistoriker Wolfgang Kemp erläutert in "Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln" Grundbegriffe der Architektur wie Raum und Fassade.
Die Sprache hat gegenüber dem Sehen einen entscheidenden Nachteil: Während das Gehirn ohne Weiteres in der Lage ist, viele optische Eindrücke gleichzeitig zu verarbeiten, muss die Sprache solche Eindrücke nacheinander darstellen. Wir sehen eine Fassade, einen Raum in einem Überblick – aber das Gesehene als Ganzes zu beschreiben, das erfordert hohe Kunst. Eine Kunst, die dem Hamburger Kunsthistoriker Wolfgang Kemp offenkundig reichlich zur Verfügung steht.

Kemp, geboren 1946, ist seit vielen Jahren Professor für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg und hat etwa mit Büchern über die Geschichte der Fotografie oder äußerst ironischen Berichten aus der Kunst- und Museumsszene schon mehrfach Aufsehen erregt. Jetzt hat er sich der Architektur zugewandt, aber nicht der konventionellen Stilgeschichte, sondern der Beschreibung von Architektur. Es geht also nicht um das Warum der Baukunst, sondern um das Wie ihrer Gestaltung. Und sofort fällt auf: Kemp fängt nicht beim Großen an, um dann beim Detail zu landen. Er beginnt stattdessen mit dem Detail: Schon das dritte Foto zeigt den Berliner Hauptbahnhof von Gerkan, Marg & Partner, dem in einer Sturmnacht 2006 einige Stahlbalken aus der Fassade abstürzten. Für Kemp ist das ein Beleg, wie unwichtig in weiten Teilen der aktuellen Architektur das Detail geworden ist, wie sehr sie dominiert wird vom Hang zur Großform. Im Gegensatz dazu steht für ihn die klassisch-akademische Säule, aus der sich die gesamte Systematik von Konstruktionen und Fassaden entwickelte. Und wer genau hinsieht, kann aus einer gotischen Filiale, diesen zierlichen Türmchen auf Pfeilern und Dächern der Kathedralen, die gesamte Systematik der gotischen Architektur herauslesen.

Immer wieder stellt er seine Leser vor Fragen, die auf den ersten Blick fast absurd erscheinen. Etwa die, was eigentlich eine Fassade ist – nur eine Abschlusswand des Hauses oder nicht doch die Folie, auf der eigenständige Geschichten erzählt werden? Und was ist Raum? Man lernt überrascht, dass die Architektur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ganz ohne den Begriff auskam. Erst als die Konstruktion der Wände in Eisenstangen aufgelöst werden konnte, da wurde auch nach dem Nichts zwischen den Wänden, der Decke, dem Fußboden gefragt. Kemp schreibt nun aber nicht, das ist so und so, sondern: Dieser und jener Autor bietet diese und jene Lösung an.

Etliche Jahrzehnte als Professor haben Kemp gelehrt, dass nur derjenige wirklich sieht, der selbst begriffen hat. Dazu braucht es Beispiele, Erklärungen, genaue Literaturangaben und den Mut, die Autoritäten immer wieder in Frage zu stellen. Deswegen ist sein Buch eben auch keine einfache Stilfibel, in der man nachschlagen kann, sondern ein oft amüsant und vor allem mit erheblichem Anspruch an den Leser geschriebenes Lehrstück. Man muss Lust am Lesen aufbringen, Lust am Knobeln und am Zergliedern von Problemen, die auf den ersten Blick gar keine zu sein scheinen. Belohnt wird man aber mit einem immer wieder neuen Blick auf die Umwelt.

Besprochen von Nikolaus Bernau

Wolfgang Kemp: Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln
Schirmer/Mosel Verlag, München 2009
416 Seiten, 49,80 Euro