Archäologische Chronologie des Scheiterns

Rezensiert von Gerard Bökenkamp · 19.09.2010
Es war eine "archäologische Aufgabe" für die Autoren: Sie haben mit einer umfassenden Datenauswertung die Geschichte der Finanz- und Schuldenkrisen zusammengetragen. Allerdings nicht nur für die letzten Jahrzehnte, sondern gleich für die vergangenen 800 Jahre.
Kenneth Rogoff kennt sich aus mit den Schuldenproblemen dieser Welt. Der Harvard-Professor war zwischen 2001 und 2003 Chefvolkswirt des Internationalen Weltwährungsfonds. Dieser springt immer dann mit Krediten ein, wenn ein Staat vor der Zahlungsunfähigkeit steht. Zusammen mit der Ökonomin Carmen Reinhardt von der Universität Maryland hat Rogoff ein ehrgeiziges Projekt in die Tat umgesetzt: Die Veröffentlichung einer Geschichte der Finanz- und Schuldenkrisen, die auf einer umfassenden Datenauswertung beruht. Einer Auswertung nicht nur für die letzten Jahrzehnte - nein, einer Datenauswertung für die letzten 800 Jahre.

Die Beschaffung der Daten beschreiben die Autoren als "archäologische Aufgabe." Anders als man annehmen könnte, sind verlässliche Zahlen zur Staatsverschuldung nicht so leicht aufzutreiben. Die staatlichen Schuldner waren und sind an Transparenz wenig interessiert. Diesen Schwierigkeiten zum Trotz haben die Autoren fleißig Datensätze und Statistiken aus acht Jahrhunderten zusammengetragen und ausgewertet – Daten zu Staatsbankrotten, Bankenkrisen und Inflationen. Mit berechtigtem Stolz präsentieren sie das Ergebnis:

"Wir stützen unsere Analyse auf Daten aus einer riesigen Datenbank, welche die gesamte Welt umfasst und bis zum China des 12. Jahrhunderts und dem Europa des Mittelalters zurückreicht."

Herausgekommen ist eine umfassende Chronologie des Scheiterns. Egal ob Monarchen oder demokratisch gewählte Politiker, Entwicklungsländer oder westliche Industriestaaten – Sie alle scheiterten immer aufs Neue daran, ihre Haushalte zu sanieren und ihr Geld stabil zu halten. In der Geschichte waren Schuldenkrisen keine Ausnahmeerscheinung, sondern sehr oft sogar ein Dauerzustand:

"Abgesehen von ruhigen Phasen gibt es lange Zeiträume, in denen sich ein hoher Prozentsatz aller Länder in einer Schuldenkrise oder einer Restrukturierungsphase befindet."

Schon der Titel ihres Buches "Dieses Mal ist alles anders", der in Anführungszeichen steht, verweist auf ihr Credo: Es gibt nichts Neues, außer dem, was vergessen wurde. Die Autoren wollen zeigen, dass eben nicht alles anders ist, dass Finanz- und Schuldenkrisen nicht aus der Reihe fallen, sondern historisch gesehen Phänomene sind, die in unschöner Regelmäßigkeit auftreten. Auch die aktuelle griechische Schuldenkrise fällt hier nicht aus dem Rahmen: Wie die Autoren anhand ihrer Daten feststellen, hat Griechenland mehr als die Hälfte der Zeit seit 1800 in Auslandsschuldenkrisen verbracht. Kaum ein Land blieb im Laufe der Geschichte von Zahlungsausfällen verschont.


Die Autoren weisen darauf hin, dass einem Staatsbankrott in der Regel ein politisches Kalkül zu Grunde liegt. Das ist daran erkennbar, dass in der übergroßen Mehrzahl der Fälle, die Regierungen ihre Zahlungsverpflichtungen an die Gläubiger zu einem Zeitpunkt aufkündigten, als noch erhebliche Sparpotenziale vorhanden waren. Es sind daher nicht so sehr ökonomische, sondern politische Gründe, die dazu führen, dass ein Staat seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommt. Das unterscheidet den Bankrott eines Staates von einer privaten Insolvenz:

"Die Tatsache, dass Kreditgeber von der Rückzahlungsbereitschaft einer souveränen Nation abhängen – und nicht von ihrer Rückzahlungsfähigkeit – impliziert, das ein Staatsbankrott etwas ganz anderes ist als eine Unternehmenspleite. Bei Unternehmenspleiten oder Privatinsolvenzen haben Gläubiger klar definierte Rechte. Bei Staatsbankrotten stehen den Gläubigern theoretisch zwar die gleichen Rechte zu, aber in der Praxis ist die Durchsetzung ihrer Ansprüche kaum möglich."

Fast ebenso häufig wie Staaten geraten auch Banken in die Krise. Bankenkrisen gehen in der Regel mit einer starken Rezession einher, so dass auf den Staat nicht nur die Kosten für die Banken-Rettungspakete zukommen, sondern auch die Kosten steigender Arbeitslosigkeit und der Wegbruch der Steuereinnahmen den Etat belasten. Die Schuldenlast steigt daher in der Folge von Bankenkrisen dramatisch an.

"Das wahre Vermächtnis von Bankenkrisen besteht somit wohl in einer höheren öffentlichen Verschuldung – und zwar weit jenseits der unmittelbaren Kernkosten umfangreicher Rettungspakete."

Dies erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit für Zahlungsausfälle des Staates und die Betätigung der Gelddruckmaschine – und das bedeutet: Steigende Inflation.

"Geldschöpfung und die Zinskosten der Schulden tragen zu Etatengpässen bei, und in einer Finanzkrise wird ein Staat typischer Weise alle Quellen anzapfen."

Neben der direkten Zahlungsaussetzung gehörte die Geldverschlechterung seit frühen Zeiten zu den unlauteren Methoden, mit denen sich Herrscher ihrer Schulden entledigten. Eine der ersten überlieferten Geldabwertungen ging auf den altgriechischen Tyrannen Dionysios zurück. Dieser ließ einfach einen höheren Wert auf die Münzen prägen, um damit seine Gläubiger zu bezahlen. Inflation durch Münzverschlechterung wurde über Jahrhunderte hinweg praktiziert. Aber erst die Ablösung des Münzgeldes durch Papiergeld gab der Regierung die Macht Geld einfach zu drucken. Dies führte im 20. Jahrhundert zu einer dauerhaft höheren Inflation als in den Jahrhunderten davor, wie die historische Erfahrung zeigt.

"Zum einen zeigt sie, dass Inflation und Zahlungsausfälle keine neuen Phänomene sind; nur die Instrumente haben sich verändert. Noch wichtiger allerdings ist die Tatsache, dass der Übergang von Metall- zu Papiergeld ein bedeutendes Beispiel dafür liefert, dass technologische Innovation nicht unbedingt völlig neuartige Finanzkrisen erzeugen, sondern vielmehr deren Effekte verstärken können."

Viele ihrer Ergebnisse sind nicht neu, wurden aber noch nie auf Grundlage einer so breiten Datenbasis vorgetragen. Über 100 Seiten umfasst allein der Anhang mit Tabellen und Statistiken. Der allgemein an der Thematik interessierte Leser wird sich wohl lieber an den Textteil halten, in dem die Ergebnisse der Datensammlung vorgestellt werden. Die fast 400 Textseiten bestärken das Misstrauen gegenüber Politikern und Bankern, die die enorme Geldvermehrung und Schuldenaufnahme damit rechtfertigen, diesmal sei wirklich alles anders.

Carmen M. Reinhardt, Kenneth S. Rogoff: Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen
Finanz-Buchverlag, München 2010
Buchcover: Carmen M. Reinhardt, Kenneth S. Rogoff - Dieses Mal ist alles anders
Buchcover: Carmen M. Reinhardt, Kenneth S. Rogoff - Dieses Mal ist alles anders© Finanz-Buchverlag