Arbeitsmarkt ohne Grenzen - Chance oder Risiko?

Moderation: Stephan Karkowsky · 21.05.2011
Seit dem 1. Mai hat Deutschland die Grenzen für Arbeitssuchende aus acht mittel- und osteuropäischen EU-Staaten geöffnet. Diese sogenannte Arbeitnehmerfreizügigkeit ist Teil des Europäischen Binnenmarktes. Viele deutsche Arbeitnehmer fürchten nun eine wachsende Konkurrenz durch Billigjobber und Lohndumping. Sind diese Sorgen berechtigt? Welche Chancen, welche Risiken bringt die Freizügigkeit mit sich?
"Die Freizügigkeit bringt Deutschland vor allem Chancen und Vorteile", sagt Prof. Dr. Herbert Brücker, der Leiter der Forschungsgruppe "Internationale Vergleiche und Europäische Integration" am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg.

"Das Bruttosozialprodukt steigt, sie ist eine große Chance für die sozialen Sicherungssysteme, denn es kommen sehr junge Arbeitnehmer, die höhere Nettobeiträge leisten, als die meist älteren hiesigen Arbeitnehmer."

Die weit verbreitete Angst vor der Billigjob-Konkurrenz sei unbegründet.

"Die Zuwanderung wird vor allem die Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen betreffen. Diese jungen Menschen in den Beitrittsländern sind oft besser qualifiziert als bei uns. Es gibt mehr Hochschulabsolventen und weniger Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung als in Deutschland."

Die Zuwanderung sei alternativlos, auch mit Blick auf die demografische Entwicklung:

"Viele Arbeitsplätze sind nicht besetzt, bis 2050 wird die erwerbsfähige Bevölkerung von 45 Millionen auf 27 Millionen sinken. Das hat negative Effekte auf das Sozial- und das Rentensystem. Das Problem in Deutschland ist, dass wir die Freizügigkeit zu lange unterbunden haben und damit haben wir die Menschen in Scheinselbstständigkeit und in den Schwarzmarkt gedrängt und eine Struktur geschaffen, die ungesund ist. Bei jemand, der drei, vier Jahre schwarz gearbeitet hat, ist es schwer, ihn in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Da haben sich die Gewerkschaften ins Knie geschossen. Wenn sie die Freizügigkeit früher erlaubt hätten, wäre es nicht so weit gekommen."

"Nicht die Menschen sind das Problem, sondern die Arbeitsbedingungen, in die sie getrieben werden durch ihr Unwissen. Man muss sie stärken, dann sind sie auch keine Konkurrenz", sagt Maria Böning vom Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte beim DBG Berlin-Brandenburg. Die Juristin und gebürtige Polin kennt die Grauzone, in der viele Osteuropäer in Deutschland arbeiten. Viele auch gut gebildete Frauen würden als Pflegerinnen eingesetzt, aber als Haushaltshilfen angemeldet, damit sie nicht unter den Mindestlohn fallen.

"Wenn dann eine Frau anruft, die 24 Stunden am Tag für einen Alzheimer kranken Mann da sein muss, und dafür 800 Euro bekommt im Monat – brutto! Ist das rechtmäßig?"

Sie hofft, dass dieser graue Markt durch die Freizügigkeitsregeln unterbunden wird.

"Sicherlich kann man nicht erwarten, dass jeder Pole, jeder Lette, jeder Tscheche eingestellt wird, aber die Bereitschaft wäre höher, wenn wir eine effizientere Kontrolldichte hätten. Wenn jeder Arbeitgeber Konsequenzen zu befürchten hätte."

Sie mahnt aber auch ein anderes Bewusstsein an: Noch seien Polen, Tschechen und Letten anders angesehen als Franzosen, Italiener oder Österreicher. Hier spreche niemand von der Billig-Konkurrenz. Auch das müsse sich ändern.

"Arbeitsmarkt ohne Grenzen – Chance oder Risiko?"
Darüber diskutiert Stephan Karkowsky heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit dem Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker und der Rechtsberaterin Marta Böning.
Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet:
Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte in Berlin
Prof. Dr. Herbert Brücker